Es klingt so abstrus wie die Geschichte vom Flügelschlag des Schmetterlings, der anderswo einen Tornado auslöst: Was haben die Sehnenscheidenentzündungen deutscher Zollbeamter mit einer geldpolitischen Entscheidung der Schweizer Notenbank zwölf Monate zuvor zu tun? Ziemlich viel. Dier Erklärung dafür ist zwar ein bisschen kompliziert, fasst dafür aber zugleich den Zwiespalt einer ganzen Volkswirtschaft zusammen. Diesen Freitag jährt sich nämliche geldpolitische Entscheidung, die in der Schweiz schon wenige Tage nach Verkündung als „Frankenschock“ in den allgemeinen Wortschatz einging, zum ersten Mal. Ein Schock war die zunächst einmal für alle ausländischen Touristen, die sich im Januar 2015 in der Schweiz aufhielten.
Am 15. Januar verkündete die Schweizer Nationalbank (SNB), dass sie die bis dahin durch eine Untergrenze an den Euro gebundene Währung freigeben werden. Innerhalb von Minuten wertete der Franken massiv auf, statt 1,20 Franken bekamen die Touristen plötzlich nur noch einen Franken für einen Euro. Wer nicht im Voraus bezahlt hatte, dessen Urlaub wurde innerhalb von Sekunden um knapp ein Fünftel teurer. Während die betroffenen Touristen aber ein paar Tage später abgereist waren, wirkt der Frankenschock in der Schweiz selbst bis heute nach. Zwar ist der Kurs wieder etwas gestiegen, pendelt aktuell zwischen 1,08 und 1,10 Franken, doch an den grundsätzlichen Auswirkungen hat sich dadurch nichts geändert: Schweizer Exportprodukte sind deutlich teurer als zuvor, für die Schweizer selbst werden ausländische Produkte und Reisen günstiger. Wie aber verändert sich dadurch das Land?
Die Volkswirtschaft kennt zwei Wirkungskanäle solcher schockartigen Aufwertungen, die sich in ihrer Konsequenz jedoch komplett widersprechen. Variante 1: Die Exportprodukte werden teurer, die Unternehmen verlieren dadurch an Profitabilität, es kommt zu einer Rezession und höherer Arbeitslosigkeit. Variante 2: Der hohe Wechselkurs wirkt als sogenannte Innovationspeitsche. Weil die Produkte teurer werden, sind die Unternehmen gezwungen noch innovativer zu sein, um so die höheren Preise durchsetzen zu können. Diese Innovationspeitsche betrachten Schweizer Ökonomen bereits seit Jahrzehnten quasi als nationale Spezialität, auch jetzt sagt der am Hamburger Weltwirtschaftsinstitut wirkende Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar: „Die Schweiz steht – trotz Nationalbank-Entscheid – paradiesisch da.“
Auf den ersten Blick deckt sich das mit der Realität. Trotz der plötzlichen Aufwertung ist die Schweizer Wirtschaft im vergangenen Jahr um 0,7 oder 0,8 Prozent gewachsen, die klassischen Schweizer Exportbranchen Pharma und Luxus sind ohnehin nicht besonders preissensibel, ihnen machen die erhöhten Exportpreise wenig aus. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn diese Branchen mögen zwar die Schweizer Volkswirtschaft im Ausland repräsentieren, Arbeit finden auch in der Schweiz dennoch viele Menschen in klassischen Industriebetrieben, im Tourismus und im Einzelhandel. Und so zeigen sich auf dem Arbeitsmarkt nach zwölf Monaten bereits deutliche Spuren des Währungsdebakels. Nach Schätzungen der Credit Suisse hat der Frankenschock 2015 ungefähr 10.000 Jobs gekostet, zuletzt waren landesweit 220.000 Menschen ohne Arbeit, das entspricht nach der Berechnungsmethodik der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 4,9 Prozent. Damit lag die Quote in der Schweiz sogar höher als in Deutschland, wo nach ILO-Methodik 4,4 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos sind.
Industrielle Basis in Gefahr
Nach Ansicht vieler Ökonomen könnte sich diese Entwicklung sogar noch verschärfen. So gehen die Analysten von der Raiffeisen-Bank davon aus, dass die Folgen des Frankenschocks erst 2016 vollends zutage treten werden. Derzeit agiere die Wirtschaft in einem „Improvisationsmodus“, in dem die Unternehmen trotz sinkender Erträge zunächst auf Entlassungen verzichteten, da sie noch darauf hoffen, dass sich die Wechselkurse wieder verbessern. Sollte das aber nicht kurzfristig passieren, werden Stellenstreichungen „im fünfstelligen Bereich“ schon bald unvermeidlich, glauben die Analysten. Es drohe sogar die Gefahr, dass die Schweiz „einen Teil ihrer industriellen Basis endgültig verliert“.
Zwar ist die Schweizer Wirtschaft Aufwertungen ihrer Währung durchaus gewöhnt. Der Frankenschock 2015 kam jedoch plötzlicher als alle Aufwertungsrunden zuvor. Um als Innovationspeitsche zu fungieren, fehle anders als in der Vergangenheit vielen Unternehmen diesmal schlicht die Zeit. So haben die Maschinenbauunternehmen einer Branchenbefragung zufolge zum überwiegenden Teil ihre Preise gesenkt, um die Kosten der Aufwertung abzufangen. Genutzt aber hat das nur wenig: Ein Drittel der Branchenunternehmen schlossen das Jahr 2015 mit einem Verlust ab. Ein Jahr nach dem Währungsschock spricht vieles dafür, dass diese Aufwertung nicht spurlos an der Volkswirtschaft vorbeigeht. Die Schweizer Konsumenten stürzt der Frankenschock in eine zwiespältige Situation. Auf der einen Seite müssen sie zunehmend um ihre Jobs fürchten, gerade wenn sie im Tourismus oder Handel arbeiten. Solange der Job aber sicher ist, profitieren sie von der aufgewerteten Währung. Da die Importe dadurch günstiger werden, sind auch die Schweizer Händler gezwungen, ihre Preise zu senken. Das kostete den größten Einzelhändler Coop zwar fast fünf Prozent seines Umsatzes, für die Konsumenten sanken die Preise im Jahr 2015 aber um 1,3 Prozent. Zudem können sie so günstig wie nie im benachbarten Ausland einkaufen. Mehr als 11 Milliarden Franken gaben die Schweizer Konsumenten 2015 in deutschen Geschäften aus, das entspricht 10 Prozent der gesamten Ausgaben.
Wirtschaftliche Beziehungen der Schweiz zu Deutschland und der EU
Zwischen der Schweiz und der EU besteht ein reger Warenaustausch. Die Schweiz exportierte 2013 nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWI) Waren im Wert von rund 90 Milliarden Euro (54,9 Prozent der Ausfuhren) in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Importiert wurden aus den Mitgliedstaaten der EU Waren im Wert von rund 108 Milliarden Euro (74,4 Prozent der gesamten Einfuhren).
Die Schweiz ist viertwichtigster Handelspartner der EU nach USA, China und Russland. Exportiert werden Pharmazeutika, Industriemaschinen, Präzisionsinstrumente, Uhren.
Deutschland ist laut BMWI Zielland für rund ein Drittel der schweizerischen Exporte. Knapp ein Fünftel der schweizerischen Importe stammen aus Deutschland. Deutschland ist somit der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz.
Aber auch für Deutschland sind die Handelsbeziehungen zur Schweiz von „enormer“ Bedeutung, schreibt das BMWI auf seiner Webseite. Die Schweiz nimmt demnach in der Rangliste der wichtigsten deutschen Handelspartner den 8. Rang sowohl bei den Exporten als auch bei den Importen ein.
2012 hatte die vergleichsweise kleine Schweiz (acht Millionen Einwohner) wertmäßig mehr deutsche Produkte eingeführt als beispielsweise Russland (142 Millionen Einwohner), Japan (127 Millionen Einwohner) oder Polen (38 Millionen Einwohner).
290.000 Deutsche leben und arbeiten laut BMWI in der Schweiz. Deutsche bilden damit nur noch knapp nach Italienern (15,9 Prozent) die zweitstärkste Ausländergruppe (15,2 Prozent).
Das Shopping-Zentrum „Lago“ in der Konstanzer Innenstadt ist inzwischen das umsatzstärkste in ganz Deutschland. „Einkaufstourist“ wurde jüngst zum Schweizer Wort des Jahres 2015 gekürt. Doch die Schweizer haben beim shoppen immer das schlechte Gewissen im Gepäck, könnte doch jeder Einkaufstrip zum Bodensee daheim einen Job kosten. Im Herbst versuchten gar die Einzelhändler in St. Gallen, eine Schnellzugverbindung nach Konstanz zu verhindern, um die Konsumenten im Land zu halten. Hinter der Grenze ist der Frankenschock derweil ein Frankenboom. Es entstehen dutzende neue Geschäfte, wer in der Schweiz arbeitet und in Deutschland lebt, hat sogar mehr Geld zur Verfügung als je zuvor. Es leiden nur die Zollbeamten: Sie müssen jeden Einkauf bescheinigen, damit sich die Schweizer Kunden die Mehrwertsteuer erstatten lassen können. Seit Anfang Dezember ist aber auch das vorbei: Um die Sehnenscheidenentzündungen zu verhindern, hat das Hauptzollamt Singen inzwischen eine Stempelmaschine angeschafft.