Serdar Somuncu "Das ist 1:1 Hitler"

Mitten in der Flüchtlingsdebatte bringt der Kabarettist Serdar Somuncu ein Buch über seine Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten Lesereise mit "Mein Kampf" heraus. Ein Gespräch über rechtsextreme Anklänge in der Flüchtlingsdebatte, deutsche Identität und das Erbe des Nationalsozialismus.

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Serdar Somuncu veröffentlicht in der nächsten Woche sein Buch

Herr Somuncu, Sie veröffentlichen nächste Woche das Buch Der Adolf in mir, in dem Sie aus Ihren Erfahrungen mit zwei Jahrzehnten Lesereise zu "Mein Kampf" berichten. Sie weisen dort unter anderem nach, wie heutige Politiker noch immer Anklänge an Passagen und Argumente aus eben dieser Schrift nehmen. Täuscht der Eindruck oder verstärkt sich dieses Phänomen in der laufenden Flüchtlingsdebatte sogar noch?

Serdar Somuncu: Ja, die Liste derer, die sich gerne einer zumindest fragwürdigen Terminologie bedienen, ist unendlich lang und nicht parteigebunden. Meine Absicht war es, anhand von Beispielen wie dem AfD-Gründer Bernd Lucke, dem ehemaligen SPD-Politiker Thilo Sarrazin oder dem ehemaligen Berliner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky zu demonstrieren, wer Argumente der nationalsozialistischen Ideologie heute wiederholt oder zumindest in die Nähe ähnlicher Formulierungen kommt. Das beste Beispiel ist Bernd Lucke. Wenn er das Wort "entartet" verwendet, ist das 1:1 Goebbels. Wenn er aus einer Partei austritt, weil er bei einer Abstimmung verliert, und eine neue gründet, ist das 1:1 Hitler. Ohne, dass ich diese Beispiele auf eine Stufe stellen möchte, bleibt es für jemanden, der sich so wie ich jahrelang mit dem Sprachgebrauch der Nazis auseinandergesetzt hat, erschreckend.

Zum Autor

Ist es nicht viel erschreckender, dass die meisten dieser Politiker die Parallelen eher unterbewusst ziehen dürften, diese Argumentationsmuster sich also offenbar verselbstständig haben.

Bei Lucke würde ich das nicht unterschreiben. Das Wort entartet fällt einem nicht gerade so ein. In anderen Fällen kann es sein, dass es Deckungsgleichheiten gibt, derer man sich nicht bewusst ist. Trotzdem gibt es auch die Verantwortung eines hochrangigen Politikers und Meinungsvertreters, darauf aufzupassen, wie er etwas formuliert. In vielen Debatten heutiger Tage, sowie auch in der aktuellen Flüchtlingsdebatte, wird das manchmal bewusst ambivalent gehalten. Man will offensichtlich so bestimmte Wählerschichten nicht verprellen oder andere anlocken.

Wie haben Sie die Debatte der vergangenen Wochen erlebt: Erst feierte das ganze Land eine Willkommenskultur, mittlerweile scheint das ganze Land erschrocken über die eigene Großzügigkeit zu sein.

Ich habe in den vielen Jahren meiner Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in Deutschland gelernt, dass rapide Entwicklungen auch eine rapide Rückentwicklung nach sich ziehen können. Der Euphorie folgt schnell eine Ernüchterung. Die Willkommenskultur war ein Ausdruck der deutschen Sehnsucht danach, ein klareres Verhältnis zur eigenen Identität zu haben. Aufgeschlossenheit gegenüber Flüchtlingen wurde zum Vehikel der Selbstdarstellung einer toleranten Nation. Obwohl die Diskussionen um schärfere Gesetze gegen Einwanderung und den Islam als Teil Deutschland erst wenige Wochen zuvor mit entgegengesetzter Heftigkeit geführt wurden.

Diese neue deutsche Identität ist so lange brüchig, wie man den Blick in die Vergangenheit vernachlässigt. Woher kommen wir und mit welchen Erfahrungen aus dem Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen stehen wir heute in der Gegenwart? Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Frage, wie gehen wir mit Rechtsextremismus um? Zudem es kein deutsches Phänomen mehr ist. Rechtsextremismus ist ein latentes Problem, das in ganz Europa größer wird - und wir als Deutsche könnten sagen: Wir haben da Erfahrung, wir könnten einen Weg aufzeigen und Vorbild sein.

"Die Devise lautete immer noch Verbieten und Verdrängen"

Deutschland scheint aber doch das einzige Land in Zentraleuropa zu sein, in dem es keinen institutionalisierten Rechtsextremismus gibt.

Mit dieser Behauptung wäre ich vorsichtig. Wir haben vor vier Wochen noch über Pegida gesprochen. Die Zahl der Übergriffe ist konstant geblieben oder mehr geworden in den vergangenen Jahren. Auch die kruden Thesen Thilo Sarrazins wurden noch vor kurzem von großen Teilen der Bevölkerung bestätigt - wie könnte sich das so schnell geändert haben? Die Debatten kommen und gehen, die Richtungen wechseln je nach Stimmung. Und die Parteien nutzen diese Stimmungen, indem sie diesen Ausläufern eine institutionelle Heimat bieten. Ich fürchte, auch die Willkommenskultur ist ein vorübergehendes Phänomen. Sie ist nicht manifest.

Immerhin stellen sich selbst konservative Politiker nicht mehr in Fußgängerzonen und wettern gegen Ausländer, wie noch vor 15 Jahren.

Weil das im Moment keine Wählerstimmen bringt. Noch. Wir stehen jetzt am Rande einer neuen Entwicklung. Die Parteien werden in den nächsten Wochen wieder ins extremere Gegenteil fallen. Es gibt mittlerweile in jeder europäischen Gesellschaft einen Anteil von 10 bis 20 Prozent rechtsextremen Wählern. Zuwanderung, Islamismus und Terror stärken diese Kräfte. Die Frage ist, wie wir in Deutschland damit umgehen: Im Affekt reagieren und machtlos bleiben oder werden wir uns auf einen Diskurs über eine innere Erneuerung unserer Gesellschaft einlassen und uns argumentativ einer Lösung nähern?

Sie fordern in Ihrem Buch, den Verkauft von "Mein Kampf" in Deutschland freizugeben. Wie soll ausgerechnet das bei den Problemen, die Sie schildern, helfen?

Die Debatte um die Freigabe ist vor allem ein Indikator dafür, wie wir heute mit den Hinterlassenschaften der Geschichte umgehen. Die Devise lautet leider immer noch verbieten und verdrängen statt zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit "Mein Kampf" könnte helfen, die Ursprünge des Übels zu begreifen. Vor allem aber ist sie überfällig, denn das Verbot schützt nicht vor Interesse.

Inwiefern spielen bei den jetzigen Protesten gegen Flüchtlinge eher materielle als wirklich nationalistische Gründe eine Rolle? Viele Deutsche haben vielleicht einfach nur Verlustängste.

Das materielle ist sicher ein Aspekt. Ein anderer ist, dass wir in unterschiedlichen Milieus diskutieren. Wenn Sie sich anschauen, wer die Willkommenskultur propagiert, sind es eher Linke oder Vertreter aus der intellektuellen Mittelschicht. Auf der anderen Seite argumentieren diejenigen, die für ein rückwärts gewandtes Deutschlandbild sind: ohne Zuwanderung und ohne Flüchtlingsheime. In der Mitte dieser beiden Blöcke gibt es eigentlich nichts.

Keinen Ansatz, der hinterfragt und gesamtgesellschaftliche Lösungsmöglichkeiten erörtert. Sondern nur affektgesteuerte Anteilnahme oder Ablehnung. Vor allem aber wird nicht über den eigenen Anteil an der Ursachen dieser Katastrophe gesprochen. Jahrelang haben wir das Elend der Menschen ignoriert, die nicht in Freiheit, Frieden und Wohlstand leben konnten. Flüchtlinge gab es schon immer. Wir müssen nicht unser Verhalten umstellen, sondern unsere Haltung muss sich ändern.

Klingt vage...

Wir dürfen unseren Wohlstand nicht darauf aufbauen, dass anderswo auf der Welt Menschen zu Hungerlöhnen schuften. Wir können nicht an der Börse in Waffengeschäfte investieren, Konflikte schüren und uns dann beschweren, dass die Opfer von Kriegen zu uns kommen. Wir dürfen nicht die Ressourcen anderer Länder verprassen, damit wir günstig Auto fahren können, sondern wir brauchen eine weltweite Verteilungsgerechtigkeit und notfalls einen Verzicht auf Privilegien. Solange wir solche Widersprüchlichkeit nicht hinterfragen, bleiben wir den Folgen ausgeliefert.

Das Buch „Der Adolf in mir" von Serdar Somuncu erscheint am 19.10. In Ausgabe 43 der WirtschaftsWoche lesen Sie einen exklusiven Auszug aus dem Buch.

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