Sigmar Gabriel am Fraunhofer Institut Industrie 4.0 und Ostdeutschland – passt das zusammen?

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel setzt bei seiner Sommerreise durch die neuen Länder auf das Schlagwort Industrie 4.0. In Jena wird ein kleiner Roboter zum Symbol des Fortschritts - und der Schwierigkeiten damit.

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Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit einem Roboter im Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik (IOF) in Jena. Quelle: dpa

„Guten Tag, Herr Gabriel, hatten Sie eine gute Anreise?“ Die höfliche Begrüßung kommt nicht von der Fachhochschul-Professorin Oksana Arnold, die neben dem Bundeswirtschaftsminister steht, sondern von ihrem „wohlgenährten Baby“, einem fünf Kilo schweren und rund 70 Zentimeter großen Robotermännchen. Das stakst etwas wackelig über den Tisch und gibt Gabriel die Hand. Dann allerdings knickt die Maschine in sich zusammen und Sigmar Gabriel kommentiert ein wenig uncharmant: „Wir erkennen wenigstens den Forschungsbedarf.“

Den gibt es hier in Jena an jeder Ecke. Das Fraunhofer Institut für angewandte Optik und Feinmechanik (IOF) ist ein weltweit führender Standort für wirtschaftsnahe Entwicklungen. Mit Partnern aus der Industrie – nahezu allen deutschen Großunternehmen, aber auch etlichen Mittelständlern – marschieren die Jenaer Wissenschaftler und Ingenieure an der Spitze des Fortschritts. Innovative Lösungen mit Licht, so lautet das selbst gewählte Motto. Auch Dank der zahlreichen Forschungsanstrengungen mit Unterstützung aus öffentlichen Kassen arbeiten heute wieder 15.200 Menschen im Großraum Jena in der optischen Industrie. Zu DDR-Zeiten waren es 30.000, nach der Wende nur noch 3000.

Stufen der industriellen Entwicklung

Industrie 4.0 - das Schlagwort, das Unternehmen weltweit umtreibt, hat der Bundeswirtschaftsminister als Leitmotiv für seine Sommerreise durch die neuen Länder gewählt. Zwei Fragen treiben Gabriel um: Wie können es deutsche Unternehmen schaffen, mit diesem Trend an die Weltspitze zu kommen oder dort zu bleiben – beispielsweise im Maschinenbau? Und welche Folgen hat der Wandel für die Arbeitsbedingungen, die Zahl der Jobs sowie die Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter?

Kamera mit Insektenauge

War es mit dem Roboter noch etwas schwierig, begeistern Gabriel andere Entwicklungen des Fraunhofer IOF umso mehr. Eine superflache Kamera, deren Technik dem Auge der Insekten abgeschaut ist. „Die Natur hat 27 verschiedene Augensysteme hervorgebracht“, erklärt der Jenaer Professor Andreas Tünnermann, Leiter des IOF. „Aber unsere bisherigen Kameras sind nur dem Auge des Säugetieres nachgebildet.“

Mit der Neuentwicklung ließen sich dreidimensionale Darstellungen leichter erzeugen. Eingesetzt wird die Technik auch zur Entfernungsmessung; dort ermöglicht sie sehr viel genauere Daten. Vor allem aber: Die Kamera ist winzig und leicht – eben so wie ein Insektenauge im Vergleich zum Sehorgan von Säugetieren.

Wo die Vernetzung die Welt erobert
Mini-Computer erobern die WeltWenn es nach dem Willen der Telekomkonzerne geht, wird es in absehbarer Zukunft nur einen Schlüssel für unser modernes Leben geben: das Smartphone und oder das Tablet. Die Mini-Computer für die Akten- oder Westentasche erfreuen sich immer größerer Popularität - vier von fünf Kunden entscheiden sich derzeit beim Kauf eines neuen Handys für die internetfähige Variante, im abgelaufenen Jahr gingen allein in Deutschland über 20 Millionen Stück über den Ladentisch. Quelle: dapd
Die massenhafte Verbreitung ermöglicht ganz neue Geschäftsbereiche: Künftig sollen etwa Mietwagenkunden mithilfe von Smartphones den Weg zu ihrem Fahrzeug finden und dieses damit öffnen. Auch beim Bezahlen an der Supermarktkasse und beim Öffnen der Haustür (wie etwa bei Sharekey) sollen zunehmend mobile Computer zum Einsatz kommen. Textdokumente, aber auch Musik und private Fotos werden in externen Rechenzentren (Cloud) abgelegt und können dort mittels stationierter Software bearbeitet und jederzeit von jedem Ort abgerufen werden. Quelle: Presse
Um die technischen Voraussetzungen zu schaffen, investieren Telekom & Co. derzeit Milliarden in den Ausbau der Cloud und der mobilen Breitbandnetze. Schließlich müssen die explosionsartig wachsenden Datenmengen transportiert werden. Die Bedrohung dieser schönen neuen Welt kommt aus dem Netz selbst: Ein Hackerangriff gilt als Horrorszenario. Quelle: dpa
Am Puls des Baggers Mit der Kraft mehrerer Hundert PS wühlt sich der riesige Schaufelbagger durch das Gelände des Tagebaubergwerks irgendwo in Südamerika. Tonnen von Geröll werden stündlich bewegt - Schwerstarbeit für die Maschine. Während der Bagger Lkw um Lkw belädt, funken Sensoren Dutzende Messdaten über Öl- und Wasserdruck, Motorleistung und Verbrauch in ein über tausend Kilometer entfernt gelegenes Rechenzentrum. Quelle: REUTERS
Dort werden die Daten gesammelt, aufbereitet, mit anderen Leistungskennziffern abgeglichen und an den Hersteller des Baggers weitergeleitet. Der kann nun rechtzeitig erkennen, wann es wieder Zeit ist für eine Wartung oder wann ein Verschleißteil ausgewechselt werden muss. Der Servicetechniker vor Ort wird rechtzeitig in Marsch gesetzt, notfalls gleich mit dem passenden Ersatzteil. Das spart Zeit und Kosten, weil das schwere Gerät nur für kurze Zeit unproduktiv im Gelände steht. Quelle: obs
Die Fernüberwachung von Maschinen, Transportunternehmen und Gütern ist unter anderem für den britischen Mobilfunkanbieter Vodafone Teil der Strategie bei der Maschinenkommunikation. Ähnlich wie beim vernetzten Auto wird für die Einsätze ein speziell für die M2M-Kommunikation entwickelter Chip eingesetzt. Er ist kleiner als die, die in jedem üblichen Mobilfunkgerät stecken, aber deutlich robuster: Der SIM-Chip entspricht Industrieanforderungen, ist fest verlötet, korrosionsbeständig, verfügt über eine längere Lebensdauer und übersteht auch hohe Temperaturschwankungen. Er funktioniert auf vielen Netzen weltweit und wird daher auch für die Überwachung von Containern eingesetzt, die rund um den Globus schippern. Quelle: dpa
Das vernetzte Heim Die Vision hat was Bestechendes: Bequem vom Sofa aus öffnet der Hausbesitzer mit Hilfe eines kleinen Flachbildschirms das Fenster im Kinderzimmer, stellt die Heizung auf moderate 22 Grad und kontrolliert, ob der Herd wirklich ausgeschaltet ist. All das und viel mehr ist heute schon möglich - und doch funktioniert diese moderne Welt des vernetzten Heims nur in Ausnahmefällen. Quelle: dapd

Nächstliegende Anwendung zahlreicher Technologien, die in Jena entstehen, ist das autonome Fahren. Die ultraflache Kamera wird dafür genauso gebraucht – und später in die Windschutzscheibe implantiert - wie die Sensorik, die ursprünglich für Rendezvous im All, für das Andocken von Raumschiffen entwickelt wurde.

HighSpeed-3D-Messung ermöglicht das schnelle Erfassen der Umgebung, die schnelle Reaktion. Ein Milliardenmarkt täte sich dort auf, sagt Andreas Bräuer, Abteilungsleiter Mikrooptische Systeme am IOF.

"In Deutschland erfunden, in Japan umgesetzt - das darf nicht passieren“

Da hakt Wirtschaftsminister Gabriel ein: „Wie rentiert sich das eigentlich für Fraunhofer?“ Ihn treibt dabei nicht nur die Sorge um den verdienten Lohn für die Wissenschaftseinrichtung, sondern auch um das Verhältnis öffentlicher und privater Investitionen. Schließlich wird ein Teil der Entwicklung mit Steuergeldern finanziert.

„Das Geschäft machen dann die Partner oder ausgegründete Unternehmen.“ Institutschef Tünnermann widerspricht: „Da muss man über Lizenzierung sprechen.“ Doch Gabriel lässt nicht locker und erinnert warnend an die Technologie des MP3-Players (entwickelt am Fraunhofer Institut) und an den Katalysator: „In Deutschland erfunden, in Japan umgesetzt. Das darf uns nicht zu oft passieren.“

Intelligente Assistenten für das neue Maschinen-Zeitalter haben nicht nur im Verkehr eine Zukunft, sondern auch in Industrie und Handwerk. „Assistierte Montage“ wird ein Arbeitsplatz der Zukunft sein, den Gabriel in Jena schon mal ausprobieren kann. Über dem Arbeitsplatz erscheint auf dem Bildschirm das Werkstück. Jedes weitere Bauteil wird dort angezeigt, kann anhand der eingeblendeten Hilfslinien an die richtige Stelle positioniert und verschraubt werden.

Gabriel findet das hilfreich. „Meine handwerklichen Fähigkeiten sind eher unterdurchschnittlich ausgebildet“, gibt der SPD-Vorsitzende zu. Aber für einen Sozialdemokraten sollten zwei linke Hände kein Problem sein.

Vollautomatische Fertigung bei ThyssenKrupp

Die unternehmerische Anwendung von „Industrie 4.0“ schaut sich Gabriel in Schönebeck bei Magdeburg an. ThyssenKrupp fertigt dort Lenksysteme für nahezu alle Automobilhersteller. Inzwischen weitgehend vollautomatisch. Der Maschinist legt nur noch die Bauteile auf ein Montagetablett, den Rest erledigt die Fertigungsstraße. Jedes Einzelteil wird vermessen und geprüft, sie werden zusammengefügt und verschraubt.

So wird der „ZB-Kugelmutterkörper“- ein toller Fachbegriff – vollautomatisch produziert und weiterverarbeitet. Am Ende rechnet die Anlage aus, welche der 27 Kugelsorten – abgestuft in tausendstel Millimetern – in das Kugellager eingebaut werden müssen, um das optimale Ergebnis zu erzielen. Gabriel staunt, dass trotz höchster Automation „offenbar jedes Stück verschieden ist“. Ein Problem sei das nicht, belehrt ihn Patrick Vith von ThyssenKrupp. „Wir verkaufen nicht Teile, sondern Eigenschaften und Spezifikationen wie Lenkgenauigkeit und Fahrkomfort.“

Ein wenig alltäglichen Realismus konnte freilich auch der verbesserungsfähige Roboter in Jena bieten, der später mal Alte pflegen oder zumindest unterstützen könnte. „Ich folge Dir“, sagt die Stimme vom Chip, als Gabriel den Arm des Technikwunders anhebt. Wieder macht das Maschinchen einige wackelige Schritte, dann fällt er unplanmäßig auf die Knie.

Den Minister kann das nicht erschüttern. „Das macht meine Tochter auch immer. Die wirft sich erstmal auf den Boden und sagt Nein, wenn ich sage, sie soll mir folgen.“

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