WirtschaftsWoche: Herr Gabriel, die SPD ist stolz auf ihre 150 Jahre lange Tradition – aber wie viel Arbeiterpartei steckt heute in der SPD?
Gabriel: Eine ganze Menge. Aufstieg für jeden Menschen muss möglich sein, egal, aus welchem Stadtviertel er kommt oder wie viel seine Eltern verdient haben – dieser Anspruch ist zeitlos. Jeder soll aus seinem Leben etwas machen können, das ist der Urgedanke der SPD.
War Ihre Partei nicht immer dann besonders stark, wenn sie sich auch um die qualifizierten Arbeitnehmer, die motivierte Mittelschicht bemüht hat?
Über die habe ich gerade geredet. Die SPD ist immer die Partei der fleißigen Leute gewesen. Aber genau die bekommen auch nach guter Ausbildung oder Studium immer häufiger nur noch befristete Jobs. 50 Prozent aller neuen Arbeitsplätze sind inzwischen befristet. Frauen verdienen bei gleicher Arbeit in Deutschland fast 25 Prozent weniger als Männer. Wenn es etwas gibt, was wir in Deutschland bewahren müssen, dann, dass Arbeit und Anstrengung sich lohnen. Das ist das eigentliche Geheimnis der sozialen Marktwirtschaft. Und das droht unter die Räder zu geraten.
Die Geschichte der SPD
Ferdinand Lassalle gründet am 23. Mai den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) in Leipzig, der Vorläufer der SPD. Das Datum gilt als Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie.
Auf einem Parteitag in Erfurt gibt sich die SPD ein neues Programm und wird zur Massenpartei - für die Rechte von Arbeitern.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November in Berlin die Republik aus. SPD und USPD bilden für kurze Zeit eine Revolutionsregierung.
Nach den Wahlen zur Nationalversammlung wird der Sozialdemokrat Friedrich Ebert Reichspräsident.
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar endet die Weimarer Republik. Die Sozialdemokraten lehnen am 23. März das Ermächtigungsgesetz ab, im Juni verbietet Hitler die SPD. In der Folge werden zahlreiche Sozialdemokraten verfolgt, ermordet und in Konzentrationslagern eingesperrt.
SPD und KPD werden in der sowjetischen Besatzungszone unter Druck zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vereint.
Mit dem Godesberger Programm wandelt sich die SPD im Westen von einer Klassen- zu einer pluralistischen Volkspartei.
Zum ersten Mal ist die SPD in der Bundesrepublik an einer Regierung beteiligt: der Großen Koalition mit der CDU/CSU.
Willy Brandt ist Bundeskanzler der SPD/FDP-Koalitionsregierung. Nach seinem Rücktritt wegen der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume folgt ab 1974 Helmut Schmidt als Kanzler (bis 1982).
West- und Ost-SPD vereinigen sich zu einer gesamtdeutschen SPD.
Dritter SPD-Bundeskanzler wird Gerhard Schröder (bis 2005). Die SPD regiert mit den Grünen. Mit dem Namen Schröder sind auch die umstrittenen Arbeitsmarktreformen der „Agenda 2010“ verbunden.
Die SPD kommt mit Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier auf nur 23 Prozent der Stimmen und verliert ihre Regierungsbeteiligung. Nach der Wahlniederlage wird Sigmar Gabriel zum neuen Parteivorsitzenden gewählt.
Heute gibt es aber 1,3 Millionen mehr unbefristete Vollzeitarbeitsplätze als 2008. Das ist – entgegen Ihrer Darstellung – noch immer die Regel.
Aber schon 25 Prozent aller Arbeitsplätze sind inzwischen prekär! Das gab es noch nie in unserem Land. Und selbst Menschen ohne materielle Not plagen andere Fragen: Wie versorge ich meine Eltern, wenn sie gepflegt werden müssen? Was ist mit der Bildung meiner Kinder? Kann ich im Alter meine Miete noch zahlen? Seien Sie mir nicht böse, aber Journalisten und Politiker vergessen oft, wo der Durchschnittsverdienst in Deutschland liegt: bei 2700 Euro pro Haushalt im Monat. Und die durchschnittliche Rente liegt in Westdeutschland bei 700 Euro im Monat. Ich kenne eine ganze Menge Leute in Politik, Wirtschaft und Medien, die sich nie im Leben vorstellen können, mit diesen Löhnen eine Familie zu ernähren oder im Alter klarzukommen. Etwas mehr Demut gegenüber dem Fleiß der vielen in Deutschland, die hart arbeiten und nicht wirklich viel verdienen, täte uns allen gut. Denn das sind die wahren Leistungsträger unseres Landes.
War es dann nicht ein Fehler, im Bundesrat die Abschaffung der kalten Progression zu verhindern?
Wir machen etwas Besseres: Wir schaffen die Kita-Gebühren ab. Das entlastet Familien mit Kindern um ein Vielfaches.
Von Lohnerhöhungen profitiert dennoch der Staat überproportional.
Wir haben der CDU und der FDP doch angeboten, dass wir der Abschaffung der kalten Progression zustimmen, wenn die Bundesregierung bereit ist, die dadurch entstehenden Steuerausfälle bei Ländern und Gemeinden zu erstatten. Denn es hilft doch nichts, die Steuern zu senken und dann – wegen der Steuerausfälle bei der Stadt – die Gebühren für Kitas und öffentlichen Nahverkehr zu erhöhen.
Sie wollen eine Vermögensteuer einführen, dabei aber alle Betriebsvermögen ausklammern...
Erst einmal sollten wir klären, warum wir in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen überhaupt über neue Steuern reden.
Gefahren der Energiewende
Danke, jetzt sind wir gespannt.
Weil wir gleichzeitig die höchste Staatsverschuldung haben. Frau Merkel und Herr Schäuble haben in Zeiten niedrigster Zinsen, hoher Beschäftigung und sprudelnder Steuereinnahmen das Kunststück fertiggebracht, 110 Milliarden Euro neue Schulden aufzunehmen – und da sind die Kosten für die Euro-Rettung noch gar nicht dabei. Frau Merkel macht drei Versprechen, die nicht zueinander passen: Schulden abbauen, mehr Geld für Bildung und Infrastruktur ausgeben und Steuern senken. Nach meiner Kenntnis der Grundrechenarten passt das nicht zusammen.
Wie lautet Ihre Alternative?
Wir müssen dringend Schulden abbauen, und wir müssen mehr in Bildung und Infrastruktur investieren. Deshalb müssen wir an vielen Stellen im Haushalt einsparen und auch einige Steuern für die anheben, die sehr, sehr hohe Vermögens- und Kapitaleinkünfte haben. Die Vermögensteuer ist übrigens keine Erfindung von Karl Marx oder der SPD, sondern sie ist die erste von drei Steuerarten unserer Verfassung und wurde vom CDU-Kanzler Konrad Adenauer eingeführt.
Und wie soll es nun konkret gehen?
Ist doch klar: Wir werden nicht das Eigenkapital besteuern, denn das wäre ja Irrsinn. Kein Gewinn – keine Vermögensteuer.
Kommen wir zur Energiewende...
...wenn die so weiterläuft, wird sie viel gefährlicher als jede Vermögensteuer!
Strom wird immer teurer. Wann ist bei Ihnen die Schmerzgrenze erreicht?
Die ist doch längst überschritten! Vor allem bei sehr vielen energieintensiven Unternehmen. Noch schlimmer als der Preisanstieg ist die totale Planungsunsicherheit. Seit zweieinhalb Jahren herrschen in der Energiewirtschaft Chaos und Anarchie. Wenn die Energiewende nicht komplett neu gestartet und endlich professionell gesteuert wird, stehen wir vor dem größten Deindustrialisierungsprogramm unserer Geschichte. Ich besuche jede Woche Unternehmen. Es gibt keines, das nicht vor dieser Entwicklung warnt.
Das absurde Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), durch das die Verbraucherpreise steigen, wenn der Börsenpreis sinkt, war keine Erfindung von Schwarz-Gelb.
Das EEG war ein kluges Gesetz, als grüne Energien eine Nische waren. Jetzt entwickelt es sich zum Hindernis für deren Zukunft. Das Verrückte ist doch, dass im Bericht der Atomausstiegskommission von Klaus Töpfer alles aufgezählt ist, was zu tun wäre. Und ich gebe zu, ich bin einigermaßen fassungslos, dass es ausgerechnet eine konservative Regierung ist, die angeblich etwas von Wirtschaft versteht, die davon nichts, aber auch gar nichts angepackt hat. Kein Grüner und erst recht kein Sozialdemokrat würde so viel Chaos hinterlassen in der Energiepolitik, wie das CDU/CSU und FDP getan haben. Eine grundlegende Reform des EEG ist seit Jahren überfällig.
Und wie soll die aussehen?
Das EEG trägt die Überschrift „invest and forget“. Das geht nicht mehr, wenn der grüne Strom einen Großteil des Strombedarfs decken soll. Die Produzenten von Ökostrom müssen mit in die Netzverantwortung hinein und ran an den Markt. Die Ausbaudynamik muss kontrolliert werden. Je mehr, desto besser – das ist falsch. Der Ausbau muss außerdem mit dem Bau konventioneller Kraftwerke und dem Netzausbau abgestimmt werden. Kleine ineffiziente Biogasanlagen sind doch kein Beitrag zur Energiewende, sondern eine neue Form der Landwirtschaftssubvention. Zu prüfen ist auch, ob die sehr teure Offshore-Wind-Produktion ganz raus aus der EEG-Förderung und über Steuermittel gefördert werden muss. Die Ausbauziele dort sind sehr unrealistisch. Parallel dazu müssen wir endlich den konventionellen Kraftwerksbau wieder anfahren. Dazu brauchen wir ein neues Strommarktdesign, denn das heutige passt nicht zu den erneuerbaren Energien. Statt neue Gaskraftwerke zu bauen, die wir dringend brauchen, werden hochmoderne Gaskraftwerke derzeit stillgelegt. Und zur Wahrheit gehört auch: Man kann nicht gleichzeitig aus der Atomenergie und der Kohle aussteigen. Auch Kohlekraftwerke werden noch auf mehrere Jahrzehnte ihre Berechtigung haben. Dass die Bundesregierung den CO2-Handel in Europa torpediert hat, ist deshalb ein echter Skandal der früheren Klimakanzlerin.
Rot-Grün aus inhaltlichen Gründen
Wie würden Sie 16 Länder und ihre Einzelinteressen unter einen Hut bringen?
Ich hätte jedenfalls nicht zweieinhalb Jahre tatenlos zugesehen. Die Bundesregierung ist doch im Blindflug unterwegs. Alle fliegen mit, aber keiner weiß, wohin. Wir brauchen einen echten und ernst gemeinten Neustart der Energiewende direkt nach der Bundestagswahl. Und Parteizugehörigkeit oder Landesinteressen müssen hinten angestellt werden. Wir hatten eine riesige Chance mit der Energiewende für neues und nachhaltiges Wachstum und wirtschaftlichen Erfolg. Aber wenn wir nicht gemeinsam Verantwortung übernehmen, wandelt sich diese Chance zu einem ungeheuren Risiko.
Den Umfragen nach wird es aber für Ihre Wunschkoalition Rot-Grün nicht reichen.
Na warten wir es mal ab. Bis zu 70 Prozent der Wähler sagen, sie seien noch nicht festgelegt, ob und wen sie wählen. Je mehr Menschen zur Wahlkabine gehen, desto höher ist unsere Siegchance.
Eine große Koalition ist doch sehr wahrscheinlich, oder?
Wir wollen keine große Koalition, weil sie nur die Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners wäre.
Beim Bürger ist sie sehr beliebt.
(lacht) Weil die Wähler noch keine machen mussten. Mit der Union kriegen sie nichts Vernünftiges hin. Wir wollen Rot-Grün aus inhaltlichen Gründen. Auch wenn die Gemeinsamkeiten in der Energiepolitik – sagen wir mal – ausbaufähig sind.
Im Frühjahr wollten Sie beim Wahlergebnis eine drei vorne sehen...
Eine vier wäre mir noch lieber. Aber das wird dieses Mal wohl nicht zu schaffen sein...
1998 gelang die Ablösung von Schwarz-Gelb durch Rot-Grün. Heute ist von Wechselstimmung nichts zu spüren.
Aber mehr als die Hälfte der Bürger wollen Schwarz-Gelb nicht wählen. Wir haben eine Mehrheit links von der Mitte. Das Problem ist, dass die rechnerische Mehrheit keine politische werden wird.
Hannelore Kraft hat es mal probiert.
Aber Sie können NRW nicht mit der Bundesrepublik vergleichen. Was glauben Sie, was da in Europa los wäre, wenn wir hier eine unsichere Minderheitsregierung hätten? Das geht nun wirklich nicht.
Wie oft haben Sie eigentlich schon nachts davon geträumt, dass Sie sich doch selbst zum Kanzlerkandidaten gekürt haben?
Gott sei Dank hatte ich solche Albträume bisher nicht.