Sondierungsgespräche Woran Jamaika noch scheitern könnte

Beim Blick auf ein neues Sondierungspapier von CDU, CSU, Grüne und FDP wird schnell klar: Eine Wunschkonstellation ist das nicht. Worauf sich die Parteien dennoch geeinigt haben – und welche Knackpunkte es noch gibt.

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Eine Wunschkoalition ist Jamaika nicht. Aber man muss ja. Quelle: dpa

Berlin Schon der erste Satz im gemeinsamen Papier zu den Sondierungsgesprächen, das dem Handelsblatt vorliegt, spricht Bände: „Uns eint die Verantwortung für die Menschen und die Zukunft unseres Landes“. Die Parteien stellen gleich am Anfang klar: Eine Wunschkoalition ist Jamaika nicht. Aber man muss ja. „Die Menschen erwarten von uns, gemeinsam zentrale Herausforderungen unserer Zeit anzugehen“, heißt es in dem Papier.

Tatsächlich haben sich die Parteien auf viele Dinge geeinigt. Die größten Knackpunkte stehen jedoch noch aus.

Migration

Neun Stunden dauerte die Bearbeitung des Themas Migration am Dienstag laut Teilnehmerkreisen. Die Stimmung war entgegenkommend, aber an manchen Stellen ging es auch hitzig zu. Vor allem die Grünen liegen Überkreuz mit den Vorstellungen von FDP und Union. Einigkeit besteht bei der Einrichtung von zentralen Aufnahme- und Registrierzentren außerhalb der EU oder an den Außengrenzen unter dem Dach des UNHCR.

Beim Thema Einwanderungsgesetz ist man sich zwar noch nicht ganz grün, eine gemeinsame Linie scheint aber in greifbare Nähe gerückt. Knackpunkte könnte noch die Deklarierung von sicheren Herkunftsländern sein. Während der Verhandlungen war die FDP von ihrer ursprünglichen Forderung abgerückt, alle Länder mit einer Anerkennungsquote von Asylsuchenden unter zehn Prozent zu sichereren Herkunftsländern zu erklären und hatte sich auf den Vorschlag von CDU und CSU eingelassen, die diese Quote bei fünf Prozent haben wollte. Die Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen, die vor allem die CSU gefordert hatte, ist der kritischste Streitpunkt. CDU und CSU wollen eine Obergrenze von 200.000 Menschen pro Jahr. Die Grünen wollen gar keine Begrenzung. Die FDP hatte einen Korridor von 150.000 bis 250.000 Menschen ins Spiel gebracht.

Prüfen wollen die Jamaika-Unterhändler, „ob durch einen neuen oder veränderten Status für Kriegsflüchtlinge“ das Asylsystem entlastet werden kann. Ein gordischer Knoten, den die Parteichefs durchschlagen müssen, ist auch das Thema Familiennachzug. Die Union lehnt es weiter ab, dass Flüchtlinge mit geringerem Schutzstatus ab März 2018 wieder ihre Familien nachholen dürfen, die Grünen wollen den Nachzug wieder erlauben, die FDP nur im Rahmen der noch festzulegenden Obergrenze. Umstritten ist weiter die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, die die Grünen ablehnen. Darüber, dass neu einreisende Flüchtlinge in Ankunfts- und Entscheidungszentren untergebracht werden sollen, herrscht inzwischen weitgehend Konsens, die Grünen wollen aber Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive von dort rasch auf die Kommunen verteilen. Die legale Arbeitsmigration wollen die möglichen Jamaika-Partner erleichtern, wenn auch über Details noch gerungen wird. Weiter strittig ist die doppelte Staatsbürgerschaft.

Klima

Die Parteien bekennen sich zu den gemeinsamen Klimazielen - selbst dem nationalen Klimaziel für das Jahr 2020. Das war es aber auch schon mit den gemeinsamen Positionen. Uneinigkeit besteht darin, wie groß die Lücke der CO2-Einsparung zum Erreichen des Ziels von 2020 ist. Während CDU, CSU und FDP die Lücke schließen will, indem sie drei bis fünf Gigawatt Kohleverstromung reduzieren will, wollen die Grünen die Kohlekraftwerke im gleichen Zeitraum um acht bis zehn Gigawatt reduzieren.

Finanzen

In dem Verhandlungspapier bekennen sich die Parteien, den Solidaritätszuschlag ("Soli") schrittweise abzubauen. Allerdings steht in dem Papier nicht, in welchem Zeitraum das geschehen soll. Auch in welcher Höhe der schrittweise Abbau erfolgen soll, darüber wurde noch keine Einigung erzielt.

Arbeitsmarkt

In der Arbeitsmarktpolitik sind überraschend viele Streitfragen noch ungeklärt. Ob das Arbeitszeitgesetz von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit umgestellt wird, müssen die Parteichefs entscheiden. Ebenso die Frage, ob die Verdienstgrenze bei Minijobs an die Lohnentwicklung angepasst und die Mindestlohnbürokratie abgespeckt wird. Bei allen Punkten haben die Grünen bedenken. Uneinigkeit herrscht auch in der Frage, ob die Sozialbeiträge unter 40 Prozent gehalten werden sollen und der Arbeitslosenversicherungsbeitrag bei Erreichen einer bestimmten Rücklage gesenkt werden kann. Einig ist man sich, befristete Jobs zu erhalten, aber Missbrauch zu bekämpfen und Langzeitarbeitslose stärker zu fördern.

Innere Sicherheit

Der dickste Brocken ist wie erwartet für die Parteichefs übrig geblieben: die Vorratsdatenspeicherung. Grüne und FDP sehen das Sammeln von Daten ohne konkreten Anlass weiter höchst kritisch. Die Union dagegen hält weiter an der umstrittenen Vorratsdatenspeicherung als „notwendigem Instrument zur Verhinderung von Terroranschlägen und Aufklärung schwerster Kriminalität“ fest, macht aber den Kompromissvorschlag, zunächst den Ausgang des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht abzuwarten. Die Liberalen hatten in Karlsruhe gegen die Datenspeicherung geklagt.


Verteidigung, Verkehr und Datenschutz

Einigkeit erzielt haben Union, FDP und Grüne bei der Aufstockung von Polizei, Justiz und Sicherheitsbehörden, wobei der Anteil des Bundes weiter strittig ist. Fahnder sollen Online-Durchsuchungen und Quellen-Telekommunikationsüberwachung nutzen dürfen. Das war eine zentrale Forderung der Union. Die potenziellen Jamaika-Partner wollen aber „die bestehenden gesetzlichen Schutzschwellen“ stärken. Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz sollen stärker die Arbeit der Landesbehörden koordinieren, Videoüberwachung kann an Kriminalitätsschwerpunkten oder bei Großveranstaltungen angeordnet werden.

Verteidigung

Beim Thema Verteidigung liegen noch immer ideologische Welten zwischen Schwarz-Gelb und Grün. Union und FDP wollen die Rüstungsausgaben kontinuierlich steigern.  Sie wollen, dass US-Atomwaffen im rheinland-pfälzischen Büchel stationiert bleiben, und sie wollen die besonders strenge deutsche Rüstungsexportkontrolle mindestens für europäische Gemeinschaftsprodukte lockern. Vor allem für den linken Flügel der Grünen mit seiner pazifistischen Tradition gelten alle drei Ziele als moralisch verwerflich. Sie stehen für ein neues Rüstungsexportgesetz mit noch strengeren Regeln. Das gegenüber der  Nato zugesagte Ziel, bis 2024 die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, lehnen die Grünen ab. Ebenso umstritten sind Auslandseinsätze der Bundeswehr.  CDU-Politiker hofften zuletzt, dass die Grünen über die von allen gewünschte stärkere europäische Zusammenarbeit Kompromissbereitschaft entwickeln könnten. Außerdem schlugen sie vor, für jeden Euro mehr für Verteidigung die Entwicklungshilfe ebenso zu erhöhen.

Entwicklungsminister Gerd Müller, der Mitglied in der Sondierungsgruppe Außenpolitik, Verteidigung, Entwicklungszusammenarbeit, Handel ist,  taxierte am Donnerstag die Chancen einer Jamaika-Einigung  auf 50 zu 50. Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin habe in den Verhandlungen über die Außenpolitik den Afghanistaneinsatz infrage gestellt, sagte der CSU-Politiker zudem. „Wir brauchen eine klare Basis und Vertrauen bei den Auslandseinsätzen“, so Müller.

Verkehr

Angesichts des Klimawandels und der Abgasskandale der vergangenen Jahren gehört die Verkehrspolitik inzwischen auch zu den großen Politikfeldern und damit auch zu einem der Hauptstreitpunkte. Dabei gibt es zumindest einige wenige gemeinsame Positionen: So bekennen sich Union, FDP wie Grüne, dass Mobilität „eine Grundvoraussetzung für Wohlstand und Lebensqualität in allen Regionen“ ist, wie es in dem Abschlusspapier der Sondierer vor den Abschlussverhandlungen heißt. Gemeinsam wollen sie die Infrastruktur „bedarfsgerecht und nachhaltig weiter ausbauen“, um „mehr Mobilität“ zu ermöglichen. Dazu wollen die Parteien die bisherigen Investitionen in den Verkehrssektor „mindestens verstetigen, den Nahverkehr stärken und die Mittel für die Gemeinden und deren Infrastruktur auf 660 Millionen Euro zu verdoppeln. Auch soll mehr in die Schiene investiert werden. Mit einem Planungsbeschleunigungsgesetz soll schneller gebaut werden.

Zugleich sollen aber weniger Emissionen entstehen. Angesichts der Klimaziele der Bundesregierung ist es zwingend, dass der Verkehr als großer Emittent im Land seinen Beitrag leistet. Und da wird es schwierig. Zwar hoffen alle auf die Digitalisierung und Automatisierung, damit Verkehr effizienter fließt. Aber weder gibt es Einigkeit darüber, wie viel der Verkehrssektor einsparen soll noch, ob etwa Dieselfahrzeuge umgerüstet oder ob mit einer mit einer Diesel- und Dienstwagenbesteuerung und einem Bonus-Malussystem bei der Kfz-Steuer Anreize zum Kauf effizienter und emissionsarmer Fahrzeuge geschaffen werden sollen. Auch ist offen, wie Fahrverbote in Kommunen verhindert werden können. Fest steht allein, dass das Elektroauto nicht das Allheilmittel sein wird. „Wir wollen die Entwicklung alternativer Antriebe technologieoffen fördern und die dazugehörigen Infrastrukturen weiter ausbauen“, heißt es im Papier der Verhandler.

Datenschutz

Eine Verständigung auf ein sogenanntes Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) steht noch aus. Dass aber das Anti-Hass-Gesetz von Justizminister Heiko Maas (SPD) „mit heißer Nadel gestrickt“ wurde, darin sind alle Parteien einig. Strittig ist lediglich, in welche Formulierungen der Änderungsbedarf gefasst werden soll. Die FDP stemmt sich etwa gegen den Begriff „Weiterentwickeln“ und will das Gesetz vielmehr „grundlegend überarbeiten“. Was das konkret bedeutet, ist offen. Allerdings besteht Konsens darin, dass nicht alles an dem Regelwerk für den Umgang mit Hasskommentaren im Internet schlecht ist, wie etwa der Zustellungsbevollmächtigte, den die sozialen Netzwerke benennen müssen. Gemeint ist ein Ansprechpartner, an den sich Bürger und Behörden mit Beschwerden wenden können. Was alle Parteien ebenfalls nicht wollen, dass die Rechtsdurchsetzung auf Private abgewälzt wird. So sieht die FDP Online-Netzwerke wie Facebook und andere Plattformen durch dieses Gesetz auf dem Weg zu einer privaten Zensurbehörde.

Teilweise aufatmen können die Verbrauchschützer. Denn die möglichen Jamaika-Koalitionspartner haben sich nach Informationen des Handelsblatts „im Grundsatz darauf verständigt“, neue Klagewege für Fälle mit vielen betroffenen Verbrauchern zu eröffnen. In den Sondierungen erklärten sich die Innen- und Rechtspolitiker der vier Parteien zur Einführung einer Musterfeststellungsklage bereit. Strittig ist, ob Verbände klagebefugt sein sollen. Einig ist man sich hingegen darin, dass es mit dem neuen Klageinstrument keine „Klageindustrie“ wie in den USA geben soll. Details sollen in möglichen Koalitionsgesprächen ausgehandelt werden. Bei der Musterfeststellungsklage wird bei gleich gelagerten Fällen ein „Musterprozess“ geführt, auf den sich danach alle Geschädigten berufen können.

Bildung 

Der größte Streitpunkt ist das Kooperationsverbot für Bund und Länder bei den Schulen: FDP und Grüne wollen es abschaffen, die Union blockiert. Wenn aber der Bund weiterhin die Schulen nicht direkt mit finanzieren darf, wird es schwierig zentrale andere gemeinsame Zeile in die Praxis umzusetzen. Das gilt vor allem für den schon 2016 versprochenen milliardenschweren Digitalpakt für die Schulen, aber auch für den anvisierten Rechtsanspruch für Ganztagsschulen in der Grundschule. Konsens ist aber, dass die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2025 auf „mehr als zehn Prozent des BIP“ steigen sollen, 3,5 Prozent sollen für die Forschung bereitstehen. Bisher sind es insgesamt knapp sieben Prozent, davon 3,0 für Forschung. Auch der Hochschulpakt und die Exzellenzinitiative sollen weiter finanziert werden.

Familie

Streit herrscht beim Ehegattensplitting: Grüne und FDP wollen es für Neu-Ehen abschaffen, die Union beharrt darauf. Unklar ist die Lage beim geplanten Recht  auf befristete Teilzeit, also auch das Rückkehrrecht auf Vollzeit: Die Union will das nur für Betriebe ab 200 Mitarbeitern, die Grünen schon ab 15, die FDP hat weiter Sonderwünsche. Einig ist man sich in der Familienpolitik  über die Erhöhung des Kindergeldes und des Freibetrages, der Kinderzuschlags, den bisher viele nicht in Anspruch nehmen,  soll automatisch gezahlt werden.

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