Sorge vor kontraproduktiven Folgen „Die Polizei kann Ausgangssperren nicht lückenlos kontrollieren“

Ausgangssperren ab 22 Uhr würden laut dem Handelsverband Deutschland den Einzelhandel nicht zu sehr treffen. Quelle: dpa

In immer mehr Städten und Kreisen gelten nächtliche Ausgangssperren. Der Handel warnt jedoch vor kontraproduktiven Folgen – und die Polizei vor zu hoher Belastung für Tausende Einsatzkräfte.

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Es ist ein Flickenteppich, aus dem sich Deutschland derzeit zusammensetzt: Während im Saarland am Dienstag Theater, Kinos, Fitnessstudios und die Außengastronomie wieder aufmachen sollen für all diejenigen, die einen aktuellen, negativen Schnelltest vorlegen, haben über die Osterfeiertage weitere Städte, Kreise und Kommunen nächtliche Ausgangssperren beschlossen, um die steigenden Corona-Zahlen zu bekämpfen.

Der Handelsverband Deutschland (HDE) warnt mit Blick auf die Sperren jedoch vor womöglich kontraproduktiven Folgen auf das Pandemiegeschehen. „Eine zu früh ansetzende Ausgangssperre würde in den Stunden zuvor für erhöhtes Kundenaufkommen sorgen“, sagt HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Dies sollte im „Sinne einer wirkungsvollen Bekämpfung der Pandemie“ verhindert werden. Würden die Sperren erst „ab 22 Uhr gelten, wären die Auswirkungen für den Einzelhandel sicherlich überschaubar“, ist Genth überzeugt.  

Sonderregelungen für den Weg zum Arbeitsplatz?

Setze die Regelung dagegen bereits vor 22 Uhr an, „gäbe es wohl Auswirkungen auf die Lebensmittelhändler, die ihre Geschäfte oft auch in den Abendstunden für die Berufstätigen noch geöffnet halten“, sagt Genth. „In jedem Fall müsste es möglichst Sonderregelungen für die Angestellten aus dem Lebensmittelhandel für den Weg zum Arbeitsplatz und wieder nach Hause geben“, fordert er.



In Hamburg etwa dürfen die Bürgerinnen und Bürger derzeit nur noch „aus triftigem Grund“ ihre Wohnung zwischen 21 Uhr abends und fünf Uhr morgens verlassen. Auch der Einzelhandel, inklusive Lebensmittelgeschäfte, muss spätestens um 21 Uhr schließen, ausgenommen sind Tankstellen und Apotheken. Die Abholung von Speisen in Restaurants ist nur noch bis 21 Uhr möglich, danach dürfen gastronomische Betriebe dieses Angebot nur noch für Lieferdienste anbieten, die uhrzeitunabhängig arbeiten dürfen. Die Verordnung gilt zunächst bis zum 18. April.

„Nicht mehr nur ein tumber, völliger Lockdown“

Ein Gegner der Ausgangssperren sei der Verband aber nicht, betont Genth: „Grundsätzlich ist es gut, dass die Politik Maßnahmen sucht, die nicht mehr nur in Richtung eines tumben, völligen Lockdowns mit der Schließung des gesamten Nicht-Lebensmittelhandels gehen. Dazu können sicher auch Ausgangssperren in der Nacht gehören. Welche Wirkung diese haben, müssen die Fachleute für Virologie und Pandemien beurteilen.“

Unter Expertinnen und Experten ist es allerdings umstritten, welche Folgen nächtliche Ausgangssperren auf das Pandemiegeschehen haben. Zwar gibt es offensichtlich einen Effekt – aber wie groß dieser ausfällt, wie lange er anhält und wie verhältnismäßig er ist mit Blick auf die Einschnitte in die Freiheit, wird unterschiedlich diskutiert.  

Maßnahme, die „relativ schnell stumpf werden“ könne

Nach einer Studie von Mobilitätsforscherinnen und -forscher an der Technischen Universität Berlin und dem Zuse-Institut kann eine Ausgangssperre am Abend und in der Nacht besonders Kontakte im Privatbereich reduzieren. In einer Studie von Mitte Januar simulierten sie, dass die Infektionszahlen im Freizeitbereich durch eine Ausgangssperre zwischen 20 Uhr und sechs Uhr halbiert werden könnten. Jedoch könne diese Maßnahme „relativ schnell stumpf werden“, warnten sie in ihrem Bericht von Mitte März – denn mittelfristig würden die Menschen sich dann einfach zu anderen Zeiten treffen, wodurch die Kontakte wieder zunehmen würden.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt, dass die Reduzierung von Kontakten auf ein oder zwei Personen eine höhere Auswirkung auf die Virusverbreitung haben kann als nächtliche Ausgangssperren.

Tausende Polizisten für „angemessenen Kontrolldruck“

Angesichts bestehender Unklarheiten, fordert die Polizei eine umfassendere Beratung der Politik. „Wir würden uns wünschen, dass es zu den medizinischen Experten, die die Politik beraten, weitere Expertise gäbe, etwa aus Polizei, Katastrophenschutz, Juristen, die in einem ständigen Einsatzstab alle Aspekte der zu treffenden Maßnahmen beleuchten und politische Entscheidungen entsprechend vorbereiten. Dadurch könnte der Eindruck inkonsequenter Schritte und sich widersprechender Entscheidungen vermieden werden“, sagt Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Schließlich sei es die Polizei, die die politischen Entscheidungen durchsetzen müsse.

Solche Einsätze könnten die Kräfte noch weiter belasten: „Bei flächendeckenden Ausgangssperren in großen Regionen oder zahlreichen Städten dürften Tausende Einsatzkräfte notwendig sein, um einen angemessenen Kontrolldruck zu schaffen, der normale Dienstbetrieb könnte davon betroffen sein, weil die Polizei diesen Einsatz natürlich zu einem zeitlich begrenzten Schwerpunkt machen würde. Das würde bedeuten, dass andere Tätigkeiten zurückstehen würden“, erklärt Wendt.

Polizei warnt vor „dramatischer“ Zusatzbelastung

Denkbar wären auch Urlaubssperren oder der Verzicht auf zusätzliche dienstfreie Tage, das hänge von der örtlichen Lagebeurteilung und der entsprechenden Entscheidung der Polizeiführung ab. „Es ist durchaus vorstellbar, dass die Einsatzkräfte in sehr hohem Maße belastet würden. Dies wäre nach den hohen Einsatzbelastungen der vergangenen Monate eine dramatische Zunahme“, betont Wendt.

Ohnehin „kann die Polizei solche Ausgangssperren nicht lückenlos kontrollieren, sondern nur im Rahmen allgemein üblicher Präsenz oder aber bei so genannten Schwerpunktkontrollen, bei denen sie in starker Präsenz in Innenstädten unterwegs ist“, sagte Wendt. „Es hat ja in der Vergangenheit auch solche Ausgangssperren gegeben, dabei hat sich gezeigt, dass die meisten Menschen sich daran auch halten.“

Größere Geräte müssten bei den Kontrollen aber wohl nicht genutzt werden: „Dass ein Hubschraubereinsatz hilfreich oder angemessen sein könnte, ist schwer vorstellbar. Denkbar sind also feste Kontrollstellen an wichtigen Punkten in den Innenstädten oder aber Streifen der Polizei, entweder zu Fuß, auf Fahrrädern oder mit Streifenwagen.“

„Passierscheine“ für die Industrie?

Die Industrie dürfte sich unterdessen fragen, wie ihre Mitarbeitenden bei nächtlichen Ausgangssperren ohne große Probleme Produktionen im 24/7-Betrieb erreichen. Brauchen sie nun eine Art „Passierschein“? „Angesichts des regionalen Flickenteppichs“ fehle „derzeit der Überblick“, teilt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mit.

Das könnte sich bald womöglich ändern. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach sich am Sonntag dafür aus, die Corona-Regeln einheitlich per Bundesgesetz zu verankern: „Es gibt die große Sehnsucht in der Bevölkerung nach einheitlichen Regeln. Mein Vorschlag ist deshalb, die einheitlichen Regeln durch ein Bundesgesetz festzulegen“, sagte er der „Welt am Sonntag“. „Dieses Gesetz sollte genau vorschreiben, welche Schritte bei den jeweiligen Inzidenzwerten unternommen werden müssten – von der Verschärfung bis zur Lockerung.“

Auch CSU-Chef und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder plädierte für ein Bundesgesetz. „Um Corona effektiv zu bekämpfen, braucht es einen einheitlichen bundesweiten Pandemieplan anstelle eines Flickenteppichs mit unüberschaubaren Regeln in den einzelnen Bundesländern“, sagte er der „Bild am Sonntag“. So sei eine einheitliche konsequente Anwendung der Notbremse über einer Inzidenz von 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen nötig.

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Bereits vor einer Woche hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der ARD-Sendung „Anne Will“ angekündigt, womöglich bundeseinheitliche Regeln durchzusetzen, wenn die vereinbarten Beschlüsse nicht von den Ländern umgesetzt werden würden.

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