Andrea Nahles und Hermann Gröhe sitzen auf verschiedenen Seiten des Kabinettstisches, auch ihr Naturell unterscheidet sich deutlich.
Die Bundesarbeitsministerin von der SPD tritt hemdsärmelig auf, der Bundesgesundheitsminister von der CDU wirkt eher korrekt bis pedantisch. Doch beide dienten mal als Generalsekretäre ihrer Partei, eine Position, in der es darum geht, Wahlkämpfe zu gewinnen. Und Wähler beglücken, das können die Sozialdemokratin und der Christdemokrat nach wie vor gut. Ihre Politik als Minister kennt daher eine gemeinsame Richtung: Beide verteilen mit Vorliebe Wohltaten an ihre Wähler.
Und noch eine Gemeinsamkeit teilen Nahles und Gröhe – viele Wähler ihrer Volksparteien sind schon älter und schätzen besonders eine gute Versorgung bei der Rente, beim Arzt und im Krankenhaus. Also nutzt das Ministerduo den Segen der prallen Konjunktur und baut in seinen Ressorts diese Leistungen gezielt aus, als gäbe es kein Morgen. Egal, ob Gesundheit, Pflege oder Rente, die große Koalition betreibt eine zukunftsvergessene Politik.
Jüngere Beitragszahler tragen die Last
40 Prozent, das ist die magische Marke. Sie bedeutet, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber 40 Prozent des Lohns in die gesetzlichen Kassen einzahlen, also für Rente, Gesundheit, Pflege und Schutz vor Arbeitslosigkeit. Derzeit liegen diese Abgaben addiert bei 39,8 Prozent, aber zum Jahresende werden sie die magische Grenze wieder überschreiten, ein verheerendes Signal, wenn es um neue Jobs geht.
Und die Tendenz geht weiter hoch, gen 41 Prozent. „Das muss eine Regierung aufrütteln, es ist höchste Zeit für Reformen“, sagt der Chef der Mittelstandsvereinigung der Union (MIT), Carsten Linnemann.
Schließlich hat die große Koalition schon vieles gekippt, was die Absicherung der Deutschen bezahlbar und zukunftsfest machen sollte. Die Rente mit 63 wurde vereinbart und die Mütterrente eingeführt. Die Praxisgebühr, die einmal gegen die hohe Zahl an Arztbesuchen in Deutschland helfen sollte, ist abgeschafft. Krankenhäuser erhalten mehr statt weniger Geld. In der Pflege werden viele besser- und niemand schlechter gestellt.
Wer soll das bezahlen? Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat errechnet, dass Schwarz-Rot Gesetze durchbrachte, die die Sozialleistungen von 2014 bis 2019 um nicht weniger als 87 Milliarden Euro ausweiten.
Allein 2017 summieren sich neue Leistungen auf 19,7 Milliarden Euro – bei der Rente 9,3 Milliarden Euro, der Pflege 7,2 Milliarden und der Gesundheit 3,2 Milliarden Euro. Und jede Wohltat schafft neue Ansprüche, die kaum mehr einlösbar sein dürften. „Die Politik darf das Ziel nicht aus den Augen verlieren, die Sozialabgabenlast unter 40 Prozent zu halten“, verlangt BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter, früher selbst CDU-Abgeordneter. „Hinter steigenden Beiträgen stehen Entscheidungen, die die Arbeitgeber nicht mitgetragen haben.“
Dabei ist die Lage am Arbeitsmarkt so gut, dass manche Kasse Beiträge senken müsste. Mehr als 31,3 Millionen Menschen arbeiten und zahlen Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung, ein Rekord. Seit Jahren sinkt die Arbeitslosigkeit, mehr Frauen und Zuwanderer aus EU-Krisenländern sind berufstätig. Die demografischen Probleme sind noch im Griff. Erst ab 2020 werden spürbar mehr Menschen in Ruhestand gehen – die Babyboomer. „Wir haben so viele Beitragszahler wie noch nie, leben in der besten aller Welten – und kommen doch nur gerade so hin mit den Einnahmen“, klagt Bernd Raffelhüschen, Ökonom an der Universität Freiburg.
Was blüht uns da? Ein Blick auf einzelne Sozialversicherungen zeigt: Fast alles wird noch teurer.
Rente – Beitrag 18,7 Prozent
Jüngst schickte der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministers diesem einen Brief.
Freundlich im Ton, klar in der Sache: Es wäre „verhängnisvoll“, so die Forscherelite, setzte die Regierung frühere Reformen und Wettbewerbskraft aufs Spiel. Die Sorge der Forscher kreist um die Rentenkasse. Diese ist derzeit mit einer Rücklage von 34 Milliarden Euro gut gefüllt. Doch der Satz, den Arbeitnehmer und Arbeitgeber hälftig vom Gehalt überweisen, müsste eigentlich um 0,6 Prozentpunkte niedriger liegen. Diese Entlastung strich die Regierung aber, um die Mütterrente und die Frührente mit 63 zu finanzieren. Davon profitieren wenige, doch alle zahlen.
Die Rentenrücklage wird deshalb von nun an wohl beständig schwinden: Ende 2016 werden es nur noch 30,7 Milliarden Euro sein, 2018 dann 23,3 Milliarden und 2020 nur noch 11,2 Milliarden. Spätestens 2021 müsste der Beitragssatz wieder steigen, auf 19,3 Prozent.
Und die Regierung plant schon munter weitere Lasten: die Lebensleistungsrente, die armen Pensionären helfen soll, oder die Erhaltung des Rentenniveaus – nach Rechnung des Ökonomen Reinhold Schnabel wird allein dies bis zu 50 Milliarden Euro extra kosten. Noch gar nicht eingerechnet: die angestrebte Rentenangleichung in Ost und West, die allein zwischen 2018 und 2021 gut elf Milliarden Euro kosten dürfte. Wird nur ein Teil dieser Pläne Wirklichkeit, wäre die Rentenkasse schon vor 2021 leer. Ministerin Nahles will deshalb die Angleichung der Renten aus Steuergeld finanzieren. Der Steuerzuschuss für diese Sozialkasse beträgt aber heute schon 62 Milliarden Euro – pro Jahr.
Prognose: Werden nur einige der geplanten Vorhaben Gesetz, steigt der Beitragssatz spätestens 2020 wieder deutlich über 19 Prozent.
Arbeitslosigkeit - Beitrag 3,0 Prozent
Diese Versicherung ist die Ausnahme. Der Beitrag liegt nicht einmal halb so hoch wie vor zehn Jahren. Im Juli waren 2,66 Millionen Menschen arbeitslos, 112 000 weniger als im Vorjahr. Die Zahl der offenen Jobs liegt bei fast einer Million. Die Arbeitsvermittlung ist schneller und besser als früher; zugleich schafft die deutsche Wirtschaft mehr Jobs als früher.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) muss deshalb weniger auszahlen. Die Rücklage lag im Juni bei 8,48 Milliarden Euro. Doch als die Finanzkrise 2009 auch Deutschland erschütterte, verfügte die Behörde über ein Polster von 18 Milliarden Euro. Sie zahlte viel Kurzarbeitergeld, um Entlassungen zu vermeiden. Die Reserve schwand. Deshalb, heißt es aus der BA, solle der Satz nicht weiter sinken. Sie wolle „ausreichend Rücklagen bilden für schlechte Zeiten“.
Prognose: Kommt keine neue Wirtschaftskrise, wächst die Rücklage weiter – und der Beitrag bleibt bis 2020 stabil bei 3,0 Prozent.
Pflege – Beitrag 2,35 und 2,6 Prozent
Unter Minister Gröhe wird der Beitrag zur Pflege bald zum zweiten Mal in seiner Amtszeit steigen. Anfang 2017 klettert der Satz um jeweils 0,2 Punkte, für Arbeitnehmer mit Kindern und für Kinderlose. Der deutliche Aufschlag bei der jüngsten Sozialversicherung entsteht, weil Leistungen für mehr als 2,5 Millionen Pflegebedürftige erweitert werden. Hilfsbedürftige sollen künftig möglichst am sozialen Leben teilnehmen können. Das nützt vor allem Demenzkranken und ihren Angehörigen.
Doch diese Wohltat ist nur für wenige Jahre finanziert. Gröhe schreckte auch davor zurück, bei weniger pflegebedürftigen Patienten zu kürzen. Der Sozialexperte des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), Boris Augurzky, urteilt, Gröhes Pflegereform sei teuer und schaffe Ansprüche heutiger Einzahler, die nicht eingelöst werden könnten, wenn es mehr Alte gebe. „Herr Gröhe ist ein sehr teurer Minister“, sagt Augurzky. „Alle seine Reformen bedeuten Mehrausgaben.“ Die erste Stufe der Pflegereform kostet nach RWI-Rechnung 19,5 Milliarden Euro, die zweite 8,8 Milliarden Euro.
Prognose: Der höhere Beitrag ab 2017 reicht wohl bis ins Jahr 2020. Dann dürften die Kosten wieder über den Einnahmen liegen.
Gesundheit - durchschnittlich 15,7 Prozent
Die oberste Vertreterin der Krankenkassen, GKV-Verbandschefin Doris Pfeiffer, ging jüngst auf Abstand zum Minister. Pfeiffer warnte, der Beitrag werde 2017 erneut steigen – im Schnitt sogar um 0,3 Punkte. Schon dieses Jahr verlangen die Kassen mehr als 2015. Bis 2019 dürfte der Beitragssatz dann wohl auf durchschnittlich 16,4 Prozent klettern, ließ sie wissen. Das wären bis zu 355 Euro mehr Beitrag im Jahr als heute.
Geklautes Geschenk
Überall wird es teurer, in Krankenhäusern, bei Arzthonoraren oder Arzneimitteln. Gröhe ist der erste Gesundheitsminister seit Jahrzehnten, der kein Spargesetz auf den Weg brachte – eigentlich Dauerzustand in einem System, in dem die meisten Patienten ihre „Gesundheitsrechnung“ nicht selbst bezahlen.
Zum Kummer der Kassen trägt ein Trick bei, mit dem Gröhe Kosten für die Versorgung von Flüchtlingen zu verschleiern sucht. Die meisten anerkannten Asylbewerber kosten als Hartz-IV-Empfänger mehr, als für sie in den Gesundheitsfonds eingezahlt wird. Deshalb hängte der Minister einen Passus an ein Gesetz, nach dem 2017 eine Milliarde Euro der Reserve im Gesundheitsfonds abgezwackt werden soll. Der Fonds ist die Geldsammelstelle der Kassen. Mit der Milliarde der Mitglieder soll im Wahljahr ein noch stärkeres Beitragsplus vermieden werden – ein geklautes Geschenk.
Wirtschaftspolitiker Linnemann fordert von Minister Gröhe „mehr marktwirtschaftliches Denken“. „Derzeit werden falsche Anreize gesetzt, wie zum Beispiel die Fallpauschalen im Krankenhaus.“ Diese Bezahlung führe dazu, dass alle Häuser möglichst viel behandeln wollten.
Prognose: Die Beiträge von durchschnittlich 15,7 Prozent steigen wohl stetig weiter. Die Kassen rechnen für 2019 mit 16,4 Prozent.
Widerstand gegen die teuren Wohltaten vor allem für Senioren regt sich kaum. Woher soll er kommen? Im Bundestag ist die Opposition dagegen schwach. Und in der Öffentlichkeit überwiegt derzeit die Angst vor Terror und der Flüchtlingskrise.
Lars Feld, einer der fünf Wirtschaftsweisen, fürchtet, die Koalition könne sogar weitere Ausgaben bei Rente und Gesundheit durchwinken. „Die Zeichen mehren sich, dass die Bundesregierung wichtige Reformen zurückdrehen will“, beobachtet der Leiter des Walter-Eucken-Instituts in Freiburg. „Das Einfrieren des Rentenniveaus wäre ein solcher Schritt. Das käme ungeheuer teuer.“ Ähnlich sei es bei der Gesundheit: „In der Krankenversicherung ist keinerlei Reform hin zu mehr Effizienz sichtbar.“
Das Duo Nahles und Gröhe marschiert also fast ungehindert weiter im gleichen Takt, vermutlich mindestens bis zur nächsten Bundestagswahl. Und die ist erst im September 2017.