Trotz der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Lage wird die Kluft zwischen Reich und Arm aus Sicht der Wohlfahrtsverbände immer größer. "Deutschland ist tief gespalten, und die Spaltung wird von Jahr zu Jahr tiefer", sagte der Chef des Paritätischen Gesamtverbandes, Rolf Rosenbrock, am Dienstag in Berlin. Aus dem Jahresgutachten des Verbandes ergebe sich, dass insbesondere die Zahl hilfsbedürftiger Rentner rasant ansteige. 2013 sei die Zahl alter Menschen, die staatliche Unterstützung beanspruchten, um 30.000 auf 500.000 angestiegen. "Auf uns rollt eine Lawine von Altersarmut zu", warnte Rosenbrock.
Die Armutsquote insgesamt sei binnen Jahresfrist von 14 auf 15,5 Prozent angestiegen. Mit 15,4 Prozent beziehungsweise rund zwei Millionen seien auch viele Kinder und Jugendliche betroffen. Armut beginnt laut Rosenbrock bei 60 Prozent der durchschnittlichen Einkommen, was 892 Euro pro Monat entspreche. "Deutschland ist das Land mit der höchsten Vermögensungleichheit innerhalb der Euro-Zone", der der Verbandschef. Die Bundesregierung müsse das "Tabu von Steuererhöhungen" überdenken.
Armutsgefährdung in Deutschland
Wer in Deutschland allein mit weniger als 979 Euro netto im Monat auskommen muss, gilt nach der EU-Statistik als armutsgefährdet. Bei einer vierköpfigen Familie liegt die Grenze bei 2056 Euro im Monat. Nach dieser Rechnung sind 13 Millionen Menschen in der Bundesrepublik von Armut bedroht. Der Anteil an der Bevölkerung von rund 16 Prozent ist seit Jahren relativ stabil. Armutsforscher Hans-Ulrich Huster warnt jedoch: „Etwa die Hälfte davon hat keine Chance mehr, da raus zu kommen.“ Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ergänzt: „Wir haben immer mehr Erwerbstätige, aber trotzdem schützt dies nicht mehr vor Armut.“
Die Statistiker sprechen von „Armutsgefährdung“ oder einem „relativen Armutsrisiko“. Nach der Definition der EU-Statistik ist von Armut bedroht, wer von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung seines Landes lebt. „Armut“ ist nach Ansicht des Armutsforschers Christian Arndt „ein Zeichen dafür, dass etwas Wesentliches zum Wohlergehen fehlt“. Dies betreffe aber nicht alle, die über ein Einkommen unterhalb der „Armutsrisikoschwelle“ verfügten. „So ist dies sicher nicht der Fall für einen Studierenden mit geringem Einkommen, kann aber sehr wohl für ein schwerwiegendes Problem für eine alleinstehende Rentnerin sein.“
Mit einer Armutsgefährdungsquote von 16,1 Prozent schneidet Deutschland 2013 um 0,6 Prozentpunkte besser ab als der Anteil aller EU-Länder zusammen. Allerdings fehlen für den exakten Mittelwert noch einige Zahlen, etwa die von Irland und Kroatien. Besonders hoch ist der Anteil der von Armut bedrohten Menschen in Griechenland (23,1 Prozent), Rumänien (22,4 Prozent) und Bulgarien (21,0 Prozent). Am niedrigsten ist das Armutsrisiko in der Tschechischen Republik (mit einem Anteil von 8,6 Prozent), Island (9,3 Prozent), den Niederlanden (10,4 Prozent) und Norwegen (10,9 Prozent).
„Armut ist immer noch weiblich“, sagt die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher. Frauen aller Altersgruppen sind stärker von Armut bedroht als Männer. Besonders betroffen sind Alleinerziehende und Frauen im Rentenalter. Und: Fast 70 Prozent der Arbeitslosen sind armutsgefährdet. Nach Einschätzung von Armutsforscher Hans-Ulrich Huster haben auch Menschen mit Migrationshintergrund und alleinlebende junge Leute unter 30 Jahren ein erhöhtes Risiko.
Das Armutsrisiko hat nach Darstellung des Volkswirts und Armutsforschers Christian Arndt zwischen 1999 und 2005 stark zugenommen. Seitdem aber nicht mehr. In der seit 2008 erhobenen EU-Statistik stieg die Quote für Deutschland von 15,2 Prozent auf 16,1 Prozent. „Hier könnte man einerseits von einer Manifestation des Armutsrisikos sprechen. Die Botschaft ist aber die, dass das Armutsrisiko im Gegensatz zu einigen anderen Ländern nicht weiter zugenommen hat.“ Armutsforscher Hans-Ulrich Huster stellt fest: „Die Reichen werden reicher. Das Einkommen der Armen sinkt relativ gesehen zu den Einkommen der mittleren und oberen Einkommensbezieher.“
Der für 2015 geplante Mindestlohn ist nach Einschätzung des Sozialverbands VdK und des Paritätischen Wohlfahrtsverband ein richtiger Schritt. „8,50 Euro ist aber hart auf Kante genäht, das ist genau für einen Alleinlebenden die Armutsschwelle“, sagt der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider. Armutsforscher Hans-Ulrich Huster betont: „Nicht der Facharbeitermangel ist das Problem, sondern dass wir uns zu wenig darum kümmern, dass die Jugendlichen, die da sind, eine entsprechende Ausbildung bekommen.“
Unmittelbar vor der Veröffentlichung des Gutachtens hatte es bereits Kritik an der Vorgehensweise von Sozialberichten gegeben: „Die Sozialverbände, die solche Berichte machen, vertreten nicht nur die Interessen der Sozialschwachen, sie vertreten auch ihre eigenen Interessen“, sagte der Berliner Politikwissenschaftler Klaus Schroeder.
In seinem entsprechenden Gutachten 2014, das der Paritätische Gesamtverband vor fast genau einem Jahr vorgestellt hatte, beklagte er eine wachsende soziale Spaltung in Deutschland. Im Februar dieses Jahres hatte der Verband einen Armutsbericht vorgelegt und das Fazit gezogen: „Die Armut in der Bundesrepublik Deutschland befindet sich auf einem historischen Höchststand.“
Schroeder hielt dem entgegen: „Was in solchen Berichten gemessen wird, ist die Verteilung von Einkommen, aber nicht Armut.“ Der Leiter der Arbeitsstelle Politik und Technik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin wies darauf hin, dass in der Regel Angaben zur Armutsquote und zum Armutsrisiko gemacht würden. In Wohlstandsgesellschaften seien Armut und Reichtum immer nur relative Größen.
Laut Statistischem Bundesamt ist die Quote der von Armut gefährdeten Menschen der Anteil der Personen, der mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der gesamten Bevölkerung auskommen muss. Schröder sagte: „Wer bis drei zählen kann, sieht: Wenn morgen alle das Doppelte hätten, wäre die Quote genauso hoch wie heute.“
Zudem habe sich die Sozialstruktur in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert, so der Sozialforscher. Mehr Menschen wie Senioren oder Alleinerziehende gelten demnach offiziell als von Armut gefährdet, auch wenn es viele von ihnen unter dem Strich gar nicht so schlecht gehe.
„Verbände, die auf diese Weise vor Armut warnen, geht es auch darum, ihre eigene Bedeutung in den Vordergrund zu rücken“, kritisierte Schroeder. Diese Verbände selbst würden selten durchleuchtet.
Ein Grund, warum solche Berichte immer wieder auf Aufmerksamkeit stoßen, sei, dass sie moralisch daherkämen. „Alles, was moralisch aufgeladen ist, kommt gut an“, sagte der Politikwissenschaftler, „jeder, der idealistisch eingestellt ist, hat den Impuls, etwas gegen Missstände zu tun“. Oft gehe es bei solchen Darstellungen auch darum, politische Ziele nach mehr Umverteilung zu untermauern.