224 Euro im Monat sind sehr wenig. Wer damit auskommen muss, gilt in Deutschland als arm. Dennoch möchten Hunderttausende, oder gar Millionen Menschen auf der Welt gerne arm sein. Arm in Deutschland. Sie riskieren mit rostigen Booten auf dem Mittelmeer ihr Leben, um ein Dasein mit 224 Euro zu führen, das nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nicht einmal „menschenwürdig“ ist. Weswegen Asylbewerber demnächst 336 Euro erhalten werden.
Das Urteil der Karlsruher Richter ist sehr fragwürdig. So fragwürdig wie alles Reden von Armut und menschenwürdiger Existenz im gegenwärtigen Deutschland. Ist die Menschwürde mit Euro und Cent zu erkaufen? Und was heißt überhaupt arm? Ein durchschnittlicher Deutscher des Jahres 1946 würde die Existenz eines Asylbewerbers oder eines Hartz-IV-Empfängers des Jahres 2012 sicher für alles andere als menschenunwürdig oder ärmlich halten.
Das Statistische Bundesamt definiert jeden als arm, der weniger als 40 Prozent des mittleren Einkommens der Deutschen zur Verfügung hat. Wer bis zu 60 Prozent davon hat, ist „armutsgefährdet“. Nach den Ergebnissen des Mikrozensus 2011 galten demnach Einpersonen-Haushalte mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 848 Euro pro Kopf als armutsgefährdet. Das trifft auf immerhin 15 Prozent der Einwohner Deutschlands zu.
Wenn nun ein gütiger Spender über alle Deutschen gleichmäßig verteilt einen Geldsegen niedergehen lassen würde, dann würde das an der Zahl der Armen und Armutsgefährdeten überhaupt nichts ändern. Denn dann stiege ja auch das mittlere Einkommen der Deutschen, also die Größe an der sich die Armut bemisst. Diese statistische Armut verschlimmert sich nach dieser Methode sogar, wenn die Preise und die Einkommen am unteren Ende gleichbleiben, aber die Einkommen am oberen Ende steigen. Wenn also statt mittellosen Asylbewerbern alljährlich zehntausende Multimillionäre nach Deutschland einwanderten, würden die Einheimischen dadurch „ärmer“ – zumindest in der Sicht der Bundes-Statistiker und der Beamten in Ursula von der Leyens Sozialministerium, die den Bericht „Lebenslagen in Deutschland“, alias Armuts- und Reichtumsbericht, verfasst haben. Konsequenterweise müssten dann auch die Verfassungsrichter den Preis dessen, was sie als menschenwürdige Existenz verstehen, nach oben korrigieren.
Verhöhnung tatsächlicher Armut
Der Armutsbericht wird alle vier Jahre veröffentlicht und ist für Sozialpolitiker und Wohlfahrtsorganisationen immer wieder ein großes Ereignis. Denn er bietet ihnen Gelegenheit und gute Argumente dafür, dass ihre Bemühungen notwendig sind – und die finanziellen Ressourcen dafür erhöht werden sollten. Das stärkste Argument dafür ist Armut. Und die ist nach dem Bericht – mal wieder – gewachsen. Nicht, weil mehr Menschen weniger Geld haben, sondern weil die Reichen deutlich reicher geworden sind. Gewachsen ist also nicht die Armut, sondern die soziale Ungleichheit.
Von Armut in Deutschland zu sprechen, ist eigentlich eine Verhöhnung der tatsächlichen, bitteren Armut in anderen Weltgegenden ist es eigentlich ziemlich geschmacklos. Der Bericht in der heute erschienenen WirtschaftsWoche über ausbeuterische Textilunternehmen in Bangladesch bietet zum Beispiel einen kurzen, erschütternden Blick auf tatsächliche, bittere Armut. Wer wissen will, was echte Armut bedeutet, kann aber auch einen älteren Menschen fragen, der noch den Hungerwinter 1946/47 erlebt hat. Damals wussten viele Mütter nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollten. Das war Armut. Wenn heute Menschen sich selbst oder – noch schlimmer – ihre Kinder verwahrlosen lassen, ist das nicht die Folge materieller Not, sondern persönlichen Versagens.
Dass trotzdem von Armut gesprochen wird, ist aber sicher kein Zufall. Denn der Begriff ist emotionaler als "soziale Ungleichheit". Er löst Mitleid aus: Erb“arm“en. Und er ist daher gut geeignet, für die politische Agitation. Sozialpolitiker und die Wohlfahrtsindustrie können nicht wirklich wollen, dass die Armut aus den Statistiken verschwindet. Denn wer die Bekämpfung eines Problems zu seinem Beruf gemacht hat, hat kein Interesse daran, dass das Problem endgültig gelöst wird.
Reichtum ohne Rechtfertigung
Können wir den Bericht aus Ursula von der Leyens Ministerium also abtun als Versuch übereifriger Sozialpolitiker, eine neue Umverteilungsagenda vorzubereiten? Genügt dazu Philipp Röslers Hinweis auf die messbare Verbesserung der Lebenslage am unteren Ende der Gesellschaft– durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit und den rückläufigen Anteil des Niedriglohnsektors?
Nein, das genügt nicht. Die Ergebnisse des Berichts geben durchaus Anlass zur Sorge. Denn auch wenn es trotz aller Rhetorik der deutschen Sozialindustrie, heute kaum mehr wirkliche Armut in Deutschland gibt: Die Vergrößerung der sozialen Unterschiede – um es einmal möglichst emotionsfrei auszudrücken – ist für jede Gesellschaft eine brisante Entwicklung. Und besonders für eine demokratische
Denn in jeder Demokratie steht der politische Anspruch auf Gleichheit aller Bürger in einem Spannungsverhältnis mit der Ungleichheit des Besitzes, die eine kapitalistische Wirtschaft notwendigerweise erzeugt. Diese Spannung muss immer wieder ausbalanciert und erträglich gemacht werden. Dauerhaft stabil bleibt eine Gesellschaft nämlich nur, wenn die in ihr herrschenden sozioökonomischen Verhältnisse von der großen Mehrheit als anerkennungswürdig betrachtet werden. Als legitim gilt heutzutage aber nur noch, was als gerecht empfunden wird.
Da hilft es nicht, den Neid in der deutschen Gesellschaft zu beklagen und die noch viel drastischeren Verhältnisse in angelsächsischen Ländern zu präsentieren. Die Deutschen sind nun einmal keine Amerikaner und sie wollen es wohl auch nicht werden. Die Leistung-muss-sich-lohnen-Rhetorik der Liberalen ist angesichts der Entwicklung der Besitzverhältnisse in Deutschland genauso unangebracht wie der Armutsalarmismus der Linken.
Geld zu haben, lohnt sich
Wenn der Wohlstandszuwachs, den unsere Volkswirtschaft immer noch erwirtschaftet, vor allem denen zu Gute kommt, die bereits vorhandenes Geld investieren, dann ist das auch nach den Maßstäben derer ungerecht, die „Leistung“ zum ausschlaggebenden Kriterium für den Verdienst erklären. Ganz offensichtlich lohnt es sich derzeit nicht so sehr, Leistung zu zeigen, wie immer man sie auch genau definiert. Am meisten lohnt es sich, Geld zu haben und daraus noch mehr Geld werden zu lassen. Diese übermäßige Zunahme der Vermögen der Reichsten, die der Bericht zum wiederholten Mal feststellt, kann keine Gerechtigkeitstheorie der Welt rechtfertigen.
Besonders brisant ist diese Entwicklung angesichts der Finanzkrise. Denn die Verstärkung der Ungleichheit durch das übermäßige Wachstum der großen Vermögen steht natürlich in direktem Zusammenhang mit der ungesunden Expansion des Finanzsektors in den letzten Jahrzehnten. Immer mehr Geld sucht nach immer neuen lukrativen Anlagemöglichkeiten. Die neuen, durch Computer ermöglichten Finanzprodukte haben die Gewinnmöglichkeiten für Investoren enorm erhöht – scheinbar ohne die Risiken zu erhöhen. Tatsächlich wuchsen die Risiken natürlich durchaus. Und zwar so stark, dass der Staat sie übernehmen musste, um den Zusammenbruch des Systems zu verhindern, in dem er selbst als größter Schuldner eine Hauptrolle spielt. Alle Rettungsaktionen der vergangenen fünf Jahre laufen letztlich darauf hinaus, den Rentiers ihre Zinseinkünfte zu retten – und das durch die Allgemeinheit bezahlen zu lassen.
Hier liegt etwas grundsätzlich im Argen mit unserer Wirtschaftsordnung. Langfristig hält keine Gesellschaft solch eine Diskrepanz aus zwischen dem offiziösen Anspruch, eine Leistungsgesellschaft zu sein, und der Wirklichkeit einer Rentierswirtschaft. Darüber, nicht über die vermeintliche Armut, sollten sich Politiker und andere kluge Menschen ernste Gedanken machen.