Sozialstaat und EU-Freizügigkeit Niedriglohnsektor zieht EU-Migranten an

Nicht die Aussicht auf Hartz-IV ist ein Magnet für innereuropäische Armutsmigration, sondern der staatlich alimentierte zweite Arbeitsmarkt. Eine Studie warnt vor der Entstehung eines Prekariats von EU-Aufstockern.

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Niedriglöhne in der EU Quelle: imago images

Wer in Deutschland Arbeit sucht, dürfte seinen Blick kaum auf Bremerhaven richten. Die Exklave des kleinsten deutschen Bundeslandes Bremen an der Nordsee gehört seit vielen Jahren zu den Spitzenreitern in den Statistiken zur Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland. Dennoch hat die Stadt auf dem offenen europäischen Arbeitsmarkt viele hundert Bürger eines anderen Mitgliedslandes angelockt - das klingt zunächst paradox bis ausgeschlossen.

Ist es aber nicht. Eine deutsche Regelung ist die Ursache dafür, dass Bremerhaven zum attraktiven Standort für Arbeitssuchende aus armen Ländern der EU werden konnte - die Möglichkeit zum "Aufstocken" von Niedriglöhnen durch den Sozialstaat. Seit den Hartz-Reformen können Erwerbstätige berechtigt sein, Unterstützung aus den Sozialkassen zu erhalten, wenn ihr erwirtschaftetes Einkommen unter dem Existenzminimum liegt. Der Staat hat damit einen Niedriglohnsektor geschaffen. Der steht im Rahmen der europäischen Freizügigkeit EU-Bürgern aus allen Mitgliedsstaaten offen.

In Bremerhaven wurde das Modell anscheinend mit krimineller Energie ausgenutzt. Seit rund einem Jahr beschäftigt die Staatsanwaltschaft und die regionalen Medien nun der Fall des „Bremerhavener Sozialbetrugs“. So sollen zwei wohltätige Vereine Hunderte Bulgaren in die Stadt gelockt, sie in Bruchbuden untergebracht und mit fingierten Arbeitsverträgen bei der Arbeitsagentur gemeldet haben.

Dies geschah, so die Vorwürfe, zumindest mit Deckung durch den zuständigen Sozialdezernenten. Die Bulgaren wurden, weil die erfundenen Löhne geringer als der Hartz-IV-Regelsatz waren, dadurch zu so genannten „Aufstockern“. Insgesamt mehr als sechs Millionen Euro wurden gezahlt. Davon, so der Verdacht, landete ein Großteil nicht bei den Arbeitern, sondern bei den Vereinen. All das geschah unter den Augen des Jobcenters und der Sozialbehörde.    

In Bremerhavener geht es um Betrug und vermutlich auch Korruption in den Behörden. Doch auch so entwickelt der alimentierte Niedriglohnsektor eine starke Magnetwirkung auf Menschen aus ärmeren osteuropäischen Ländern. Für Deutschland könnte ein Anstieg der Armutsmigration von EU-Bürgern langfristig größere Belastungen bedeuten als für andere westeuropäische Länder ohne Niedriglohn-Arbeitsmarkt als Eintrittstor. Das legen bislang noch unveröffentlichte Untersuchungen des Bremer Sozialwissenschaftlers Benjamin Werner über „Das europäische Freizügigkeitsregime als Herausforderung für die nationalen Sozialsysteme“ nahe.    

Während die Zahl aller Hartz-IV-Empfänger (erwerbsfähige Leistungsberechtigte) in Deutschland laut Arbeitsagentur insgesamt von Juni 2007 bis Juni 2017 von 5,28 Millionen auf 4,41 Millionen abgenommen hat, nahm die Zahl aller ausländischen Leistungsberechtigten von 980.000 auf 1,49 Millionen zu. Unter diesen ist die Zahl der EU-Bürger unverhältnismäßig stark von rund 197 000 auf 332.000 gestiegen. Noch deutlicher wird diese Diskrepanz bei den „erwerbstätigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“, also den so genannten Aufstockern: Während deren Gesamtzahl in den vergangenen zehn Jahren vergleichsweise konstant blieb und zuletzt sogar leicht auf 1,16 Millionen zurückging, stieg sie bei Ausländern deutlich von 235.000 auf 364.000 (rund 55 Prozent). Besonders unverhältnismäßig stieg die Zahl der aufstockenden EU-Bürger: von 51.000 im Juni 2007 auf 129.000 im Juni 2017 (153 Prozent).

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