Sozialversicherung Junge Generation verabschiedet sich vom Sozialstaat

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Grafik: Rendite der Rente

Fraßen Zinszahlungen und Sozialausgaben 1964, im geburtenstärksten Jahr der Nachkriegsgeschichte, schon ein Drittel des Gesamthaushaltes auf, so ist es heute schon ungefähr die Hälfte. Bleibt also kaum Spielraum für Investitionen in die Zukunft. Und während die Regierung sich in der vergangenen Woche zur Teambildung traf, die Rentengarantie feierte, die jährlich acht Milliarden Euro kostet, und über weitere milliardenschwere Steuersenkungen nachsann, blockierten Tausende Studenten die Hochschulen. „Mehr Geld in das Bildungssystem“, stand auf ihren Transparenten.

Umso tragischer, dass die unsichtbare Staatsverschuldung sogar noch höher ist, als die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes ausweisen. Die Herren der Zahlen verschweigen nämlich, dass den Einzahlungen der Jungen in die Sozialkassen irgendwann auch Ansprüche gegenüberstehen. Addiert man aber alle künftigen Lasten, auf die sich die Politik heute schon einstellen müsste, ist die Staatsverschuldung sogar viermal so hoch, rechnet der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen vor.

Eine Handvoll Studierender hat vor 13 Jahren einen Thinktank der Jungen gegründet, die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen mit Sitz in Oberursel. Geschäftsführer Patrick Wegner verfolgt den Start der neuen Regierung aufmerksam. Nachhaltige Pläne kann er aber nur an einer einzigen Stelle entdecken: bei der Einführung einer privaten Säule in der Pflegeversicherung. „Allerdings trifft das meine Generation doppelt“, sagt der 25-Jährige. „Wir müssen Beiträge zahlen und gleichzeitig privat vorsorgen.“ Jeder junge Mensch müsse die Sozialversicherung daher „rational überdenken“. Als Möglichkeit.

Bindung bleibt, Rückkehr ausgeschlossen

Guido Schmitz-Krummacher zum Beispiel hat alle Möglichkeiten höchst rational überdacht. Früher einmal hat der Jurist für einen Finanzdienstleister gearbeitet. Jahrelang hat er dabei die Sozialversicherung analysiert. Und was er sah, bereitete ihm Kopfzerbrechen: Nicht nur, dass er, seine Frau und vor allem seine beiden Kinder von der gesetzlichen Rente kaum noch etwas erwarten könnten, wie er glaubt: „Ich rechne damit, dass die privat angesparte Altersvorsorge so stark besteuert wird, dass man kaum noch etwas davon hat.“ Allein schon, weil längst klar sei, dass die Sozialsysteme „auf ein demografisches Desaster“ zusteuerten.

Grafik: Bundesausgaben

Vor einem Jahr beschloss Schmitz-Krummacher, ein eigenes Unternehmen zu gründen und damit das Sozialsystem zu verlassen. Sein Schritt war doppelt radikal: Zugleich verließ er nämlich auch das Land. „Mir war das Risiko zu groß, dass ich im Alter nicht mehr für mich selbst sorgen kann“, sagt er. So räumte er seine Wohnung und zog nach Zürich. In der Schweiz, so seine Hoffnung, bleibe ein größerer Teil der eingezahlten Rentenbeiträge übrig. „Deutschland hält an einem Generationenvertrag fest, von dem jeder weiß, dass er bald gesprengt wird.“

Heute leitet Schmitz-Krummacher das Startup Talentory, das eine Personalvermittlungsplattform für Geschäftskunden betreibt. Inzwischen führt er auch erste Gespräche mit Dax-Konzernen, um Kooperationen auszuloten. Die Bindung an Deutschland also bleibt. Eine Rückkehr aber schließt er aus. Für immer.

Über Jahre war der Sozialstaat Symbol des Systems Bundesrepublik, eine stabilisierende Errungenschaft, um die viele Länder die Deutschen beneideten. Eine urdeutsche Erfindung, die auf Solidarität baut, darauf, dass die Starken für die Schwächeren und die Jungen für die Alten einstehen. Heute allerdings verliert er seine jungen Finanziers. „Es droht eine Flucht aus den sozialen Sicherungssystemen“, mahnt Ökonom Clemens Fuest, der auch Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesfinanzministerium ist. Viele junge Menschen mieden inzwischen sozialversicherungspflichtige Berufe und wichen in die Selbstständigkeit aus – auch, um den Sozialkassen zu entkommen.

In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Selbstständigen von 3,5 auf rund 4,5 Millionen gestiegen. Dieser steile Anstieg sei ein Beleg für eine Abwanderung aus den Sozialsystemen, sagt Oxford-Ökonom Clemens Fuest – genau übrigens wie die steigende Zahl der 400-Euro-Jobber, die selber keine Sozialabgaben zahlen. Zwar ändere niemand sein Leben, weil ihm die Rendite in der Rentenversicherung nicht passe. Und niemand gebe deswegen eine Festanstellung auf. „Aber es gibt ja Menschen, die schon aus anderen Gründen mit der Selbstständigkeit geliebäugelt haben“ und bei denen der Frust über die Sozialversicherung den Ausschlag geben könne, sagt Fuest.

Allerdings ist es gar nicht so einfach, Vater Sozialstaat vollständig den Rücken zuzudrehen – ganz abgesehen davon, dass sich ein Ausstieg auch nicht per se für jeden lohnt und sehr gut überlegt sein will. Das Solidarsystem funktioniert nur, wenn es genügend Beitragszahler hat. Daher ist die Sozialversicherung für Normalverdiener eine Pflichtveranstaltung, damit sich nicht zu viele Einzahler aus dem Staube machen. Für alle, die im Sozialsystem bleiben wollen oder müssen, wird es nämlich mit jeder Abmeldung teurer. Wer aussteigen will, muss daher sehr gute Gründe haben. Und die Politik macht die Flucht ständig schwerer.

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