Soziologe Adloff „Das Urbild des Wirtschaftens war das Teilen“

Am Anfang war die freiwillige Gabe - nicht der Tausch. Quelle: imago images

Das Menschenbild des Nutzenmaximierers und Warentauschers ist falsch, sagt Frank Adloff. In seinem neuen Buch „Politik der Gabe“ wirbt er für ein anderes Zusammenleben auf Basis des Gebens statt des Tauschens.

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Herr Adloff, Sie sind ein Wortführer der neuen Bewegung des „Konvivialismus“. Ein wenig sperrig der Begriff. Gibt es so etwas wie einen Schlachtruf, den jeder versteht?
In der deutschen Übersetzung des „Konvivialistischen Manifests“ haben wir es mit dem Untertitel „Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“ versucht. Der Ursprung unserer Bewegung liegt in Frankreich. Im Französischen ist „konvivial“ durchaus ein Alltagsbegriff. In Frankreich gibt es auch schon Vernetzungen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren. Daraus ist ein neues Schlagwort entstanden, nämlich „Anti-Hybris“. Das funktioniert im Französischen ganz gut.

Zusammen leben die Menschen ja auch jetzt schon. Was ist es, das Sie neu und anders wollen?
Wir gehen von einem anderen als dem heute dominierenden Menschenbild aus und ziehen daraus Folgerungen dafür, wie die Institutionen anders aufgebaut sein müssten. Heute herrscht eine Kultur des Utilitarismus...

... die Maximierung des Nutzens als sittliches Ideal ...
... und das zugrundeliegende Menschenbild des Homo Oeconomicus, des Nutzenmaximierers ist stark im Alltagsverständnis der Menschen verankert. Auch in der Politik, in der Wirtschaft sowieso. Auf diesen Utilitarismus hin sind Institutionen heute ausgerichtet. Insbesondere natürlich die kapitalistische Wirtschaft. Wenn wir aber anerkennen, dass Menschen auch Wesen sind, die das Bedürfnis haben, anderen Menschen etwas zu geben, dann kann sich daraus eine konviviale Gesellschaft ergeben, die mit dem Prinzip der starken Konkurrenz und des Eigennutzes bricht.

Damit sind wir bei Ihrem aktuellen Buch „Politik der Gabe“. Nun lernt jeder Ökonomie-Student, dass die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens und Wirtschaftens der Tausch ist. Sie dagegen sagen, es ist die Gabe. Was unterscheidet eine Gabe, die letztlich doch auch auf der Erwartung einer Gegengabe beruht, vom Tausch?
Da gibt es einen fundamentalen Unterschied. Ein Tausch beruht darauf, dass mindestens zwei Parteien festlegen, was in die eine und was im Gegenzug in die andere Richtung fließt. Das geschieht vor dem eigentlichen Austausch und kann vertraglich geregelt werden. Die Gabe dagegen findet statt, indem einer dem anderen etwas überreicht. Das kann auch etwas Immaterielles, wie eine Aufmerksamkeit oder Hilfsleistung sein. Im Idealfall schließt sich der Kreis, indem die Gabe angenommen und erwidert wird. Die Erwiderung kann aber ausbleiben. Es liegt allein an der Person, die etwas bekommen hat, zu entscheiden, ob und was genau zurückkommt.
Wirtschaftshistorisch ist übrigens eindeutig, dass die ersten Seiten jedes VWL-Lehrbuches falsch sind. Die beginnen fast immer mit dieser Robinsonade: Zwei Personen kommen zusammen, der eine kann oder hat dies, die andere jenes, dann wird getauscht. Daraus entstehe dann eine Volkswirtschaft. So ähnlich steht das auch schon bei Adam Smith, der den Menschen als tauschendes Wesen sieht. Aber historisch gesehen ist der Tausch ein Sonderfall, der nicht im Zentrum der Ökonomie in vormodernen Zeiten stand. Karl Polanyi konnte zeigen, dass ursprüngliche Ökonomien auf dem Prinzip des Haushalts – griechisch oikos – beruhten, auf Reziprozität und Redistribution. In dem Haushalt gab es beispielsweise einen Chef, der entschied, wie die Güter aus einem Pool an die Haushaltsmitglieder verteilt wurden. Der Tausch fand nur im Fernhandel statt, mit unvertrauten Fremden. Das Urbild des Wirtschaftens war also nicht das Tauschen, sondern das Teilen mit anderen. Das Bild des Tausches, auf dem das Bild des Homo Oeconomicus beruht, ist ein Mythos.

Auch wer ohne vordergründig sichtbaren materiellen Gewinn etwas gibt, erwartet davon möglicherweise unsichtbare, aber umso wertvollere Gewinne: Ansehen, ein gutes Gewissen, Macht: Seht her, ich kann es mir leisten!
Wenn man jedes Geben nur als Mittel betrachtet, um irgendetwas zu bekommen, überdehnt man das utilitaristische Modell. So landet man schnell bei einer Tautologie. Es gibt dann keine Handlungsweise mehr, die nicht mit dem eigenen Nutzen einhergeht. Damit erklärt man alles und somit nichts.
Ich denke, es ist gar nicht so entscheidend, was der individuelle Geber selbst für sein Motiv hält. Wenn Sie mir etwas geben, kann ich Sie fragen, was Sie damit bezwecken. Aber ob Sie mir darauf wahrheitsgemäß antworten, weiß ich nicht. Vielleicht wissen Sie noch nicht mal selbst genau, was Ihr Motiv ist. Der springende Punkt ist: Durch die Gabe wird eine soziale Beziehung gestiftet. Und es ist der Empfänger, der die Gabe entweder als Gabe akzeptiert oder den Verdacht hegt: Diese Person will mich bestechen oder in ihrer Peer Group dadurch gut dastehen oder Macht gewinnen. Sobald die Gabe in einen solchen Verdacht gerät, wird sie zu einem Instrument der Korruption. Es kommt also nicht so sehr auf das Motiv des Gebers, sondern auf die Anerkennung des Nehmers beziehungsweise der Nehmerin an.

Der von Ihnen viel zitierte Anthropologe Marcel Mauss behauptete: Der Austausch von Gaben zwischen konkurrierenden Gruppen befriedet deren Konflikte. Leistet das in modernen Gesellschaften nicht die Demokratie durch Mehrheitsentscheide und Minderheitenschutz viel besser?
Ich plädiere natürlich nicht dafür, demokratische Institutionen zu vergessen oder auszuhöhlen. Die brauchen wir in jedem Fall. Die Frage ist, ob das alles ist. Die Debatten über Agonismen – Rechts-Links, Populismus und die Reaktionen darauf, Oben-Unten ... da gibt es kämpferische Auseinandersetzungen und die werden nicht allein dadurch gelöst, dass bestimmte Leute in der Mehrheit sind. Philanthropie, das Geben von oberen Schichten, könnte man auch deuten als etwas Agonales, um in eine gesellschaftlich anerkannte, gehobene Stellung zu gelangen. Und wenn das nicht funktioniert, findet die Gabe keine Anerkennung. Man kann viele agonale Beziehungen finden, die durch demokratische Verfahren nicht komplett aufgehoben werden können.
Hinzu kommt: Weltweit haben wir nach wie vor Nationen ohne gemeinsames Dach einer Weltdemokratie und sehr ungleiche Machtverhältnisse. Mauss selbst hat auch überlegt, inwiefern eine Gabe zwischen Nationen eine neue Beziehungsqualität stiften kann.

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