Soziologe Hartmut Häussermann "Ghettos gibt es in Deutschland nicht"

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Großsiedlung in Hamburg-Billstedt: Quartiere, die soziale Sackgassen sind Quelle: dpa

Was also ist das Problematische an der heutigen Situation?

Jedenfalls nicht der Wunsch, dass man unter sich bleibt, in ein besseres Viertel zieht. Diese Wünsche hat es schon immer gegeben. Es gibt nun einmal unterschiedliche Einkommensgruppen, Lebensstile und ethnische Kulturen. Übrigens in allen Städten. Nur bilden sich heute Quartiere heraus, die möglicherweise Sackgassen sind. Endstationen, in die die Überflüssigen abgeschoben werden. Vielleicht kann man es am besten so sagen: Segregation wird es immer geben. Es ist nur die Frage, ob sie freiwillig passiert oder unfreiwillig.

Und dennoch sprechen einige schon wieder von einer Renaissance der Städte.

Der Innenstädte, ja, das stimmt, diese Renaissance gibt es tatsächlich. Erstens durch das Wachstum der hoch qualifizierten Dienstleistungen, in der Rechtsberatung, in den Medien und Kommunikationsberufen, in der Forschung und Entwicklung, kurz: in den Berufszweigen, die gut bezahlte Arbeitsplätze für junge, kreative Leute bieten. Zweitens durch die Veränderung des Lebensstils und der Rolle der Frau. Das Hausfrauenmodell ist für viele passé. Akademiker tun sich mit Akademikerinnen zusammen, und beide verdienen mehr oder weniger gutes Geld – oft bei instabiler Beschäftigung. Sie können ihr arbeits-, aber auch genussorientiertes Leben in innerstädtischen Quartieren viel besser organisieren als draußen am Stadtrand...

...und bilden als Zuzügler mit den Alteingessenen durchaus gut gemischte, heterogene Quartiere.

Stimmt. Gentrifizierte Viertel sind oft noch heterogen. Aber sie sind eben auch nach unten geschlossen. Es gibt immer weniger Alte und Arme in diesen Quartieren.

Aber sind die Städte nicht doch widerstandsfähiger, als Sie glauben? Sind sie nicht immer noch attraktive Tummelplätze, wo sich die unterschiedlichsten Menschen weitgehend konfliktfrei begegnen?

Sie haben Recht: Solche Beschreibungen sind immer kritische Beschreibungen – und die Städte haben sich eine erstaunliche Zähigkeit erhalten. Immer wenn es zum Beispiel ums Wohnen geht, fällt der Zille-Satz: „Man kann einen Menschen auch mit einer Wohnung erschlagen.“ Einen falscheren Satz habe ich selten gehört. Menschen sind erstaunlich anpassungsfähig – es gibt gute und schlechte Wohnungen, in denen sie sich einrichten. Wir Sozialwissenschaftler blicken aber nicht auf die Arrangements der Einzelnen, sondern auf Strukturen. Wir sehen, wie sich Gebiete herausbilden, die zwar mit der U-Bahn erreichbar, aber dennoch zunehmend abgeschlossen, sozial verriegelt sind.

Das heißt, Sie beobachten Phänomene, die der Betroffene nicht wahrnimmt –  und vielleicht nicht einmal so sieht, wenn man ihn darauf aufmerksam macht?

Ja, hier geht es um zwei verschiedene Perspektiven – und beide sind richtig. Ein Migrant kann sich durchaus wohlfühlen in einem Viertel, in dem kaum Deutsch gesprochen wird. Ich aber weiß, dass die Kinder von Migranten, die unter sich bleiben und nur die Sprache ihres Herkunftslandes sprechen, in der Schule keine Chance haben – und dass sich das Nichterlernen der deutschen Sprache sowohl für das Kind als auch städteräumlich nachteilig auswirkt. Wer heute in Berlin-Kreuzberg sein Kind in eine Schule schickt, an der 80, 90 Prozent der Kinder noch nicht Deutsch sprechen, der weiß, dass seinem Kind nach vier Jahren ein Jahr Lernfortschritt fehlt.

Und alle Eltern, die einigermaßen bei Trost sind, sagen: Da zieh ich lieber weg.

So ist es. Dadurch verstärkt sich die Segregation in den Schulen – und dadurch wird die Situation für die Übrigbleibenden immer aussichtsloser. Im Ergebnis haben wir es mit einer Umkehrung der progressiven städtebaulichen Ideen aus den Zwanzigerjahren zu tun. Die neuen Siedlungen und nach dem Zweiten Weltkrieg die Großsiedlungen erfüllten ja einen sozialen Zweck. Sie signalisierten: Wir kennen keine Klassen und Schichten mehr, wir kennen nur noch den „modernen“ Menschen – und alle Menschen mit je unterschied-lichen Einkommen und Lebensstilen sollen hier zusammenleben: jedem sein gleiches Auto, seine gleiche Wohnung, seinen Kühlschrank. Das war die sozialliberale Fortschrittsidee des Fordismus.

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