Spanische Grippe „Die Menschen haben weniger panisch reagiert als heute“

Die Spanische Grippe kostete 1918/19 weltweit zwischen 20 bis 50 Millionen Menschen das Leben – weit mehr als der gesamte Erste Weltkrieg. Quelle: AP

Vor gut 100 Jahren wütete die Spanische Grippe in Deutschland und forderte über 420.000 Menschenleben. Trotzdem reagierten Regierung und Gesellschaft auf die Pandemie weniger radikal als heute, konstatiert der Historiker Eckard Michels.

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Eckard Michels, 58, ist Historiker am Birkbeck College der University of London. Vor wenigen Wochen ist von ihm bei der Landeszentrale für Politische Bildung in Thüringen eine Publikation zur Spanischen Grippe erschienen.

WirtschaftsWoche: Herr Michels, Sie haben sich als Historiker intensiv mit der Spanischen Grippe beschäftigt, die 1918 und 1919 weltweit wütete. Wie haben die deutsche Politik und Gesellschaft damals auf die Bedrohung reagiert? Ähnlich wie heute?
Eckard Michels: Die Menschen haben sich damals von der Pandemie kaum einschüchtern lassen und, soweit es sich rekonstruieren lässt, weit weniger panisch reagiert als wir heute in der Coronakrise. Man war ja anfangs auch noch in Kriegszeiten und wollte sich keine emotionale, womöglich unpatriotisch gedeutete Blöße geben. Die Spanische Grippe war auch kein Thema, mit dem sich die Regierungen auf höchster Ebene befassten. Die Gegenmaßnahmen waren weit weniger radikal als heute und wurden auf lokaler Ebene von den Kommunen beschlossen. Es gab in Deutschland weder einen strengen Lockdown noch eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Menschen oder eine Maskenpflicht.

Wie kam die Wirtschaft vor 100 Jahren nach der tödlichen „Spanischen Grippe“ wieder auf die Beine? Und was können wir daraus für die Zeit nach der Coronapandemie lernen? Fragen an den Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe.
von Bert Losse

Waren die ökonomischen Folgen der Pandemie daher geringer als heute?
Die ökonomischen Folgen der Spanischen Grippe sind wissenschaftliches Neuland. Die Historiker haben sich in der Erforschung der Pandemie bisher weitgehend auf demografische, medizinische, mentale und militärische Gesichtspunkte konzentriert. Pandemie und Ökonomie – dieses Feld ist wirtschaftshistorisch noch vollkommen unterbelichtet. Was man sagen kann: Der deutschen Industrie kam zugute, dass die drei Seuchenwellen im Frühjahr und Herbst 1918 und Anfang 1919 allesamt in nur zwei bis vier Wochen durchgezogen waren. Es gab daher keine längerfristigen Produktionsstopps. Das war anders als heute mit dem Coronavirus. Nach dem Krieg und dem Abklingen der Pandemie setzte dann ein schneller Wirtschaftsaufschwung ein.

Wie war das trotz der vielen Kriegs- und Grippetoten möglich?
Hauptgrund war die lockere Geldpolitik. Das Deutsche Reich setzte auf eine weit expansivere Geld- und Währungspolitik als etwa Frankreich und Großbritannien, denn so ließ sich die Arbeitslosigkeit vorübergehend niedrig halten. Es gab seit Anfang der 1920er Jahre einen Inflationskonsens zwischen Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften – der am Ende das damalige Geldwesen mit ruinierte.

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Nach der Hyperinflation von 1923 und einer Währungsreform 1924 folgten die viel zitierten „goldenen Zwanzigerjahre“. Was waren damals die ökonomischen Antriebskräfte?
Die jahrelang aufgestauten Konsumwünsche entluden sich in einer stark wachsenden Güternachfrage. Die Unternehmen erhöhten mit einem scharfen Rationalisierungskurs ihre Effizienz und übernahmen amerikanische Management- und Produktionsmethoden. Das sehr hohe Zinsniveau schließlich lockte amerikanisches Kapital an. Doch eines darf man rückblickend nicht vergessen: Trotz aller Stabilisierung ab 1924 lag der Lebensstandard der Deutschen in den 1920er Jahren nicht über dem Vorkriegsniveau von 1913.

Mehr zum Thema: Wie kam die Wirtschaft vor 100 Jahren nach dem Krieg und der tödlichen „Spanischen Grippe“ wieder auf die Beine? Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe sieht in den „Goldenen Zwanzigern“ nur eine Scheinblüte.

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