SPD Die Hartz-IV-Abwicklung

Hartz IV: SPD will mit dem Bürgergeld eine neue Zeit anbrechen Quelle: dpa

In der Not rückt die SPD nach links. Mit einem Ideenfeuerwerk für einen neuen Sozialstaat, der mehr fördert als fordert, will die SPD-Spitze das Hartz-IV-Trauma überwinden. Es ist vielleicht Andrea Nahles' letzte Chance. Die Union sagt: Papier ist geduldig.

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Andrea Nahles macht aus ihrem Seelenzustand kein Geheimnis. Endlich mal ein guter Tag für die SPD-Chefin. „Sie sehen eine sehr gut gelaunte, positiv gestimmte Parteivorsitzende“, sagt sie am Sonntagnachmittag im Willy-Brandt-Haus. Der Vorstand hat gerade einstimmig ihr Konzept „Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ beschlossen. Es eine Flucht nach vorn - eine Abkehr von den umstrittenen Hartz-Reformen von Gerhard Schröder, der Nahles jüngst das Fehlen von jeglichem ökonomischem Sachverstand attestiert hat.

„Wir können mit Fug und Recht sagen: Wir lassen Hartz IV hinter uns und ersetzen es nicht nur dem Namen nach“, sagt Nahles. Ein Bürgergeld soll an die Stelle von Hartz IV treten. Mit weniger Sanktionen und staatlichem Zugriff auf Erspartes und Vermögen, mit mehr Qualifizierungsangeboten für Arbeitslose und vor allem: Bis zu drei Jahre Bezug des Arbeitslosengeldes statt Abstürzen auf Hartz-IV (424 Euro Regelsatz) für alle, die lange eingezahlt haben. Damit soll eine der größten Gerechtigkeitslücken hierbei geschlossen werden.

Aber das kann viel Geld kosten. Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer warnt vor einer „Rolle rückwärts“ - zum Schutz der Unternehmen müsse „eine Sozialabgabenbremse“ bei 40 Prozent gesetzlich festgeschrieben werden. Nahles weiß, dass das Konzept mit der Union in der großen Koalition erstmal nicht umsetzbar ist. Das ist SPD pur, ein klarer Linksruck, Ergebnis des Erneuerungsprozesses. „Dieser Prozess ist abgeschlossen“, so Nahles. Doch reicht das? Zumal viele Genossen eher ein personelles denn inhaltliches Problem sehen. Mit Namen Nahles.

Und schadet es nicht der Glaubwürdigkeit, wenn das meiste erstmal nicht umgesetzt werden kann in der Koalition? „Es darf keinen ideologischen Linksruck der Regierung geben“, macht CSU-Chef Markus Söder vorsorglich klar. Und CDU-Vize Volker Bouffier meint: „Die SPD plant die Beerdigung der sozialen Marktwirtschaft“.

Wenn man die Lage der SPD sieht, das Beschwören der neuen Zeit, kommt ein Lied in den Sinn, das vor 100 Jahren in der Weimarer Republik Karriere machte, als die SPD Motor großer Veränderungen war. Bis heute wird es auf jedem Parteitag angestimmt, als Signal, dass man Veränderungen nur gemeinsam erkämpfen kann: „Wann wir schreiten Seit' an Seit'(...) fühlen wir, es muß gelingen: Mit uns zieht die neue Zeit.“

Die neue Zeit zieht bisher nicht so mit der SPD, und auch mit dem Schreiten Seit' an Seit' klappt es anno 2019 nur bedingt. Dennoch kommen die Mitglieder des Vorstands am Sonntag recht frohen Mutes zur Klausur in das Willy-Brandt-Haus, um die Weichen zu stellen für ein enorm wichtiges Jahr. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagt, ein Jahr lang habe man in die Partei hinein gehorcht, rund 10 000 Vorschläge und Ideen ausgewertet. „Wir schauen nach vorn“, betont er. Erfreut werden am Sonntag Umfragen herumgereicht, wo der rote Balken der ältesten Partei nicht mehr ganz so klein ist, doch über immer noch katastrophale 17 Prozent kommt man bisher nicht hinaus.

Die SPD schlägt in ihrem Konzept auch viele weitere Dinge vor, von einem Mindestlohn in Höhe von zwölf Euro, um Geringverdiener besser zu schützen. Mehr Flexibilität im Arbeitsalltag, etwa ein Recht, von zu Hause arbeiten zu dürfen („Homeoffice“). Und um die Kinderarmut zu mindern, soll es eine neue Kindergrundsicherung mit einer Leistung aus einer Hand geben. Bei der Finanzierung der ganzen Dinge bleibt Nahles bisher vage.

SPD will Bürgergeld statt Hartz IV

Es ist der Versuch, die „alte Zeit“ hinter sich zu lassen, durch Korrekturen Frieden zu machen mit dem Trauma der Agenda-2010-Reform von Gerhard Schröder. Allerdings warnen wirtschaftsliberale Genossen davor, zu sehr alles wieder zurück zu drehen. Denn die SPD könnte in der Mitte mehr Wähler verlieren als links gewinnen.

Allerdings fällt auf, dass ausgerechnet jetzt ein Papier nach dem nächsten vorgelegt wird, als Zeichen der „Erneuerung“: Erst eines zu Verbesserungen für die Menschen im Osten (Angleichung Renten und Löhne), nun der Sozialstaats-Wurf. Dazu - und das ist das einzige Projekt mit Aussicht auf rasche Realisierung - eine Rentenaufstockung um bis zu 447 Euro im Monat für Bürger, die wenig verdient, aber 35 Jahre lang Beiträge gezahlt haben. Denn das von Arbeitsminister Hubertus Heil vorgelegte Konzept einer Grundrente für Geringverdiener steht immerhin im Koalitionsvertrag mit der Union. Aber auch hier hakt es, die Union fordert als Kostenbremse Bedürftigkeitsprüfungen.

Nahles verweist auf 61 Prozent Zustimmung zu dem Konzept einer Grundrente für Geringverdiener - doch auch früher schon wurden SPD-Pläne in Umfragen goutiert - aber das Kreuz woanders gemacht. Am 26. Mai stehen die Europawahl und die Wahl in Bremen an, wo die SPD erstmals das Rathaus verlieren könnte. Dann folgen nach dem Sommer Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, wo weitere Debakel drohen. Der nun versuchte programmatische Neustart ist die vielleicht letzte Chance für Nahles, eine Wende zu erreichen.

Führende Genossen schimpfen auf die Medien, auf Ex-Kanzler Gerhard Schröder und Ex-Parteichef Sigmar Gabriel, die zur Treibjagd auf Nahles blasen würden. Aber auch in den Wahlkreisen und der Bundestagsfraktion ist immer wieder zu hören: Mit Nahles gehe es definitiv nicht weiter, der Niedergang sei mit ihr nicht zu stoppen. Doch der von einigen zum Comeback ermunterte Gabriel zeigt dieser Tage mit Seitenhieben gegen Nahles, warum er am Ende als Vorsitzender vor allem an sich selbst scheiterte: Einzel- statt Teamspiel.

Es sind schwierige Zeiten für die SPD. Die erste Demokratie in Deutschland hätte es vor hundert Jahren ohne die Sozialdemokraten nicht gegeben. Nun, wo die zweite Demokratie unter Druck ist, droht die SPD in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Immerhin kann in diesen Tagen keiner mehr sagen, die große Koalition sei ein einziger großer Klumpen. Union und SPD grenzen sich scharf voneinander ab. Fast könnte man meinen, hier werde schon die Scheidung vorbereitet.

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