Die im Umfragetief darniederliegende SPD glaubt offenbar ein zugkräftiges Thema ausgemacht zu haben: Kinderarmut bekämpfen. Gestern stellten Familienministerin Franziska Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil das so genannte Starke-Familien-Gesetz im Kabinett vor, heute präsentiert SPD-Chefin Andrea Nahles zur zweitägigen Klausur ihrer Bundestagsfraktion ein Beschlusspapier, in dem es laut Süddeutscher Zeitung heißt: „Mit Kinderarmut werden wir uns nicht abfinden.“
Noch in diesem Jahr solle ein Konzept zur „eigenständigen Absicherung für Kinder“ vorgelegt werden. Bestehende Sozialleistungen und steuerliche Förderungen für Familien sollen demnach gebündelt werden. Nur noch eine einzige Transferleistung soll den Grundbedarf für Kinder abdecken. Im Gespräch seien Beträge von etwa 620 Euro, die bei höheren Einkommen abgeschmolzen werden.
Am Ziel, die Armut von Kindern zu lindern, hat natürlich grundsätzlich kaum jemand etwas auszusetzen. Dass auch Kinder aus weniger betuchten Elternhäusern gute Startchancen ins Leben haben sollen, ist in modernen Gesellschaften Konsens. So bemängelte der Kinderschutzbund das Starke-Familien-Gesetz als unzureichend: „Viele arme Kinder werden auch in Zukunft durch den Rost fallen und weiter in Armut leben“.
So muss die SPD auch keine weitere Begründung dafür liefern, warum den Sozialdemokraten ausgerechnet jetzt dieses Thema so schlagartig ans Herz gewachsen ist. Liegt es eher an den gesunkenen Umfragewerten oder an gestiegener Kinderarmut?
Kinderarmut ist wie Armut generell ohnehin eine im höchsten Maße definitionsabhängige Größe. Natürlich sind selbst die in den ärmsten Familien in Deutschland aufwachsenden Kinder verglichen mit der großen Mehrheit ihrer Altersgenossen in Entwicklungsländern eher wohlhabend. Aber natürlich vergleichen sich Erwachsene ebenso wie Kinder mit den Menschen in ihrer eigenen Lebensumwelt.
Meist wird in Statistiken (Kinder-)Armut als „relative Einkommensarmut“ beziffert. Nach der Definition der Europäischen Union gelten Haushalte als arm (oft auch „armutsgefährdet“), deren Einkommen weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Einkommens beträgt. 2017 lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 1096 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2302 Euro im Monat. 2015 lag die Schwelle noch bei 1978 Euro. Je mehr die anderen verdienen, desto ärmer wird man selbst - auch ohne Inflation.
Beim Statistischen Bundesamt existieren zwei Zeitreihen zur relativen (Kinder-)Armut – eine beruht auf dem deutschen Mikrozensus, die andere auf der der Erhebung „Leben in Europa“ (EU-SILC). Beide zeigen in den vergangenen Jahren nur geringe Veränderungen. Laut Mikrozensus lag die allgemeine Armutsgefährdungsquote 2005 bei 14,7 und 2017 bei 15,8 Prozent. Für Kinder und Jugendliche liegt sie höher: bei 19,5 und 20,4 Prozent. Nach EU-SILC lag die allgemeine Armutsgefährdungsquote 2008 bei 15,2 und 2017 bei 16,1 Prozent. Für Unter-18-Jährige veränderte sie sich kaum und lag in beiden Jahren bei 15,2 Prozent.
Die Zahlen relativieren sich außerdem, wenn man die sehr bedeutende Armutszuwanderung in diesem Zeitraum mitbedenkt. Eine Publikation des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags von 2017 stellt fest: „Der aktuelle Anstieg der Kinderarmut ist vor allem auf die gestiegene Zahl von Flüchtlingen zurückzuführen: Das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund ist in der Quote sogar leicht von 13,7 auf 13,5 Prozent zurückgegangen.“
Franziska Giffey selbst argumentiert ohne statistische Zahlen. „Was Armut bei uns bedeutet, das habe ich als Bürgermeisterin von Neukölln viele Jahre erlebt. Armut ist, wenn Kinder nicht gleichberechtigt teilhaben können. Wenn das Geld für Freizeitaktivitäten fehlt, für Bücher oder Ausflüge in der Schule und das warme Mittagessen.“ Sie bezieht sich damit auf den in der Sozialforschung verbreiteten „Lebensstandard-Ansatz“, der nicht das Einkommen, sondern die Verwendung von Ressourcen in den Haushalten betrachtet: Wenn eine Unterversorgung mit Gütern vorliegt, die von der Mehrheit der Bevölkerung als Standard angesehen wird, spricht man von „Deprivationsarmut“.