SPD-Mitgliederentscheid Wenn 14-Jährige über Deutschlands Zukunft entscheiden

Knapp 475.000 SPD-Mitglieder stimmen darüber ab, ob Deutschland von einer Großen Koalition regiert werden darf. Auch minderjährige Genossen dürfen abstimmen. Ob das legitim ist, darüber streiten Staatsrechtler.

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Der Staatsrechtler hält es für fragwürdig, dass an der Mitgliederbefragung auch Genossen teilnehmen, die nicht einmal die aktive Wahlberechtigung besitzen. Quelle: dpa

Berlin Ganz Deutschland wartet auf die SPD. Darauf, dass 474.820 Bürger mit SPD-Parteibuch über den schwarz-roten Koalitionsvertrag abstimmen und damit den Daumen über die von den Vorsitzenden der CDU, CSU und SPD – Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel – angestrebte Große Koalition heben oder senken. Es steht viel auf dem Spiel. Immerhin haben die Koalitionäre ihrem 185-Seiten-Vertrag die Überschrift gegeben „Deutschlands Zukunft gestalten“.

Der Mitgliederentscheid der SPD läuft am Freitag mit der Zusendung der Abstimmungsunterlagen an. Das Ergebnis soll nach der Auszählung am 14. Dezember bekannt gegeben werden. Schmettern die Genossen die schwarz-roten Vereinbarungen ab, dann steht die größte Volkswirtschaft in Europa weiter ohne echte Regierung da. Möglicherweise drohen dann sogar Neuwahlen. Ein Szenario, dass sich niemand ernsthaft vorstellen will. In der Hand haben das die SPD-Mitglieder – auch solche, die bei der Bundestagswahl gar nicht gewählt haben, weil sie gar nicht wahlberechtigt sind.

Jedes SPD-Mitglied, das bis zum 13. November aufgenommen und ins Mitgliederverzeichnis eingetragen war, darf am Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag teilnehmen. „Folglich auch die von Ihnen genannten Personengruppen“, sagte ein Parteisprecher Handelsblatt Online. Gemeint sind SPD-Mitglieder, die (noch) nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und Jusos (14 bis 18 Jahre), die nicht wahlberechtigt sind. So steht es auch in der Satzung der Partei.

Der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart hält das für problematisch. „Mit der Mitgliederbefragung wird die Entscheidung des Wählers ihrer legitimierenden Funktion entkleidet – die der Parteimitglieder tritt an ihre Stelle“, sagte Degenhart Handelsblatt Online. „Diese Art von scheinbarer Legitimation durch die Mitgliederbefragung ist es, die das unabhängige Mandat des Abgeordneten gefährdet und die die Wahlentscheidung faktisch entwertet.“ Die Legitimationsbasis hierfür sei „umso fragwürdiger, als die Teilnahme an der Mitgliederbefragung offenbar nicht einmal die aktive Wahlberechtigung voraussetzt“, kritisierte Degenhart.

Ein SPD-Sprecher sagte der Agentur dpa, die SPD habe 7.000 Mitglieder ohne deutsche Staatsangehörigkeit und 1.300 Menschen unter 18 Jahren. Die von Degenhart genannte Gruppe mache weniger als zwei Prozent aus.
Der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis hält es zwar für unproblematisch, dass auch Parteibuchbesitzer abstimmen dürfen, die nicht wahlberechtigt sind. „Wer damit ein Problem hat, kann ja in die Partei eintreten“, sagte Battis Handelsblatt Online.

Er sieht jedoch den Mitgliederentscheid generell kritisch. „Der SPD-Mitgliederentscheid ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich, weil das Parlament kalt gestellt und faktisch entmachtet wird“, sagte er. „Es ist ein Sieg der Parteienstaatlichkeit über die parlamentarische Demokratie.“


Rückendeckung für Gabriel

Allerdings, fügte Battis hinzu, sei rechtlich „glasklar“, dass das SPD-Votum genauso unverbindlich sei wie Koalitionsvereinbarungen. Abgeordnete müssten sich nicht daran halten. Dennoch gibt der Jurist zu bedenken, dass es trotz der rechtlichen Unverbindlichkeit unbestritten sei, dass durch solche Abstimmungen Druck auf die Abgeordneten ausgeübt werde.

Über die Frage des Mitgliederentscheids war zuletzt heftig gestritten worden, nachdem SPD-Chef Gabriel von ZDF-Moderatorin Marietta Slomka auf verfassungsrechtliche Bedenken angesprochen wurde, über die Handelsblatt Online zuvor berichtet hatte. Gabriel hatte der Moderatorin in einem hitzig verlaufenen Interview für das „heute journal“ Voreingenommenheit vorgeworfen, wogegen das ZDF sich später verwahrte. CSU-Chef Seehofer sprang Gabriel zur Seite und beschwerte sich beim ZDF über Slomkas Vorgehen.

Stein des Anstoßes war die von Slomka unter Berufung auf den Staatsrechtler Degenhart aufgeworfene Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des SPD-Mitgliederentscheids über die Große Koalition. Gabriel wies dies als „Quatsch“ zurück. Er warf Slomka schließlich vor, es sei „nicht das erste Mal, dass Sie in Interviews mit Sozialdemokraten nichts anderes versuchen, als uns das Wort im Mund umzudrehen“. Slomka erwiderte darauf: „Herr Gabriel, Sie werden mir jetzt bitte nichts unterstellen.“

Rückendeckung für die SPD kommt vom Rektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Joachim Wieland. Er hält auch die von Degenhart geäußerten neuen Zweifel für unbegründet. Mit Blick auf abstimmungsberechtigte SPD-Mitglieder ohne deutsche Staatsbürgerschaft sagte Wieland Handelsblatt Online: Wenn Ausländer unter den Mitgliedern und im Vorstand einer Partei nicht die Mehrheit bildeten, sei eine Partei nach dem Parteiengesetz berechtigt, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. „Als Parteimitglieder können sich also auch Ausländer  am politischen Geschehen in Deutschland beteiligen.“


Die interne Willensbildung einer Partei steht über allem

Auch Minderjährige könnten Parteimitglieder werden und verfügten dann über die Mitgliedsrechte, betonte Wieland. „Die Mitglieder der SPD entscheiden also unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und ihrem Alter darüber, ob ihre Partei den Koalitionsvertrag annehmen oder ablehnen soll.“ Ihre Mitwirkung entspreche den vom Grundgesetz geforderten demokratischen Grundsätzen der inneren Ordnung der Partei.

Aus Wielands Sicht kollidiert das SPD-Votum auch nicht mit der Wahlentscheidung der Deutschen bei der Bundestagswahl Ende September. „Da die Bürgerinnen und Bürger bei der Bundestagswahl zwar über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, nicht aber über Regierungskoalitionen entscheiden, wird ihre Wahlentscheidung durch den Mitgliederentscheid nicht entwertet“, sagte er.

Er sei vielmehr Teil der internen Willensbildung der SPD. „Eine Abstimmung, an der alle Parteimitglieder teilnehmen können, vermittelt jedenfalls keine geringere demokratische Legitimation der Entscheidung der Partei für oder gegen eine Regierungskoalition als ein Parteitags- oder Vorstandsbeschluss.“

Die Abgeordneten müssten ohnehin in allen Fällen für sich entscheiden, ob sie den Willen ihrer Partei umsetzen, egal wie dieser Wille gebildet wurde. „Wenn Abgeordnete der SPD von der Entscheidung ihrer Partei nicht überzeugt sind, steht es ihnen frei, bei der Wahl der Bundeskanzlerin oder bei der Abstimmung über von der Regierung vorgelegt Gesetze ihrem Gewissen zu folgen und ihre Stimme nicht so abzugeben, wie es ihre Partei wünscht“, erläuterte der Staatsrechtler. Die Fraktionsdisziplin werde dann allerdings zu politischen Sanktionen führen. „Rechtlich sind die Abgeordneten der SPD aber auch nach dem Mitgliederentscheid völlig frei in der Ausübung ihres Mandats“, betonte Wieland.

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