SPD-Mitgliedervotum Dankt der Bundestag ab?

Warum das Votum der 460.000 SPD-Mitglieder über die Neuauflage der Großen Koalition das demokratisch gewählte deutsche Parlament aushebelt.

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Der Vorgang ist in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland einzigartig. Auch fünf Monate nach einer Bundestagswahl, in der die beiden Parteien der großen Koalition eindeutige Verlierer waren, gibt es immer noch keine verfassungsgemäß konstituierte Regierung. Die geschäftsführenden Minister – allen voran Herr Gabriel – tun so, als ob ihre Tätigkeit auch weiterhin den Anspruch demokratischer Legitimation erheben kann. Das Gezerre um Posten ist nicht nur ein Grund für die Politikverdrossenheit der Bürger, sondern auch Anlass, über die Funktionalität des parlamentarischen Regierungssystems nachzudenken. Denn die hart verhandelten Ergebnisse des sogenannten Koalitionsvertrages werden nun Instanzen zur Zustimmung unterworfen, die das Grundgesetz bei der Regierungsbildung gar nicht vorsieht: Während bei der CSU die Fraktions- und Parteigremien einhellig für die Vereinbarungen einer großen Koalition stimmten, hat die Schwesterpartei CDU auf einen Parteitag über den Vertrag abstimmen lassen. Die SPD wiederum lässt ihre ca. 460 000 Mitglieder, über die Fortsetzung der großen Koalition entscheiden.

Das Grundgesetz hat die Parteien in Art. 21 GG zwar als intermediäre Instanzen installiert und mit dem „Parteienprivileg“ ausgestattet. Während das Bundesverfassungsgericht in seinen ersten Entscheidungen – der Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz folgend – die Parteien noch als Verfassungsorgane verstand, spricht es mittlerweile von den Parteien als „verfassungsrechtliche Institutionen“, deren vornehmliche Aufgabe es sei, an der demokratischen Willensbildung mitzuwirken und in den Bereich der institutionalisierten Staatlichkeit hineinzuwirken. Doch dieses Verhältnis zwischen dem Staat und den Parteien ist durch die „Verfassungswirklichkeit“ mittlerweile in sein Gegenteil verkehrt worden. Denn auch die hervorgehobene Stellung der Parteien im Grundgesetz, darf nichts daran ändern, dass der Bundeskanzler vom Bundestag gem. Art. 63 GG auf Vorschlag des Bundespräsidenten mit der Mehrheit seiner gesetzlichen Mitglieder gewählt wird. Weder Parteitage, noch Urabstimmungen von Mitgliedern sollen nach dem Willen des Grundgesetzes darüber entscheiden, ob und wie eine Regierungsbildung mit Kanzlermehrheit zustande kommt.

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Währenddessen sind die von der Verfassung vorgesehenen Entscheidungsträger – die Bundestagsabgeordneten – damit beschäftigt, sich in den einzelnen Ausschüssen nach Parteienproporz zu sortieren. Im Übrigen dürften sie abwarten, was die Mitglieder ihrer Parteien über das Schicksal der Regierungsbildung beschließen. Damit sind wir vom imperativen Mandat nicht mehr weit entfernt. Währenddessen sieht Art. 38 GG eindeutig vor, dass alle Abgeordneten des Bundestages Vertreter des gesamten deutschen Volkes und nur ihrem Gewissen verpflichtet sind und daher auf Abstimmungen innerhalb ihrer Parteien keine Rücksicht nehmen dürfen. Die Entscheidung über die Regierungsbildung und die Verpflichtung, an einer Regierungsbildung teilzunehmen, obliegt daher ausschließlich den Mitgliedern der Fraktionen bzw. den fraktionslosen Abgeordneten.

Erstaunlich ist an diesem Vorgang insbesondere die Bereitschaft der Abgeordneten, insbesondere der Fraktion der SPD, aus ihren eigentlichen Funktionen abzudanken. Nur sie haben das Recht – aber auch die Pflicht -, sich an der Regierungsbildung durch Wahl des Bundeskanzlers zu beteiligen. Entscheidungen ihrer Parteimitglieder sind für die Dezisionskriterien der Bundestagsabgeordneten unerheblich.

Die parlamentarische Demokratie bringt sich durch diese Unsitten des Parteienstaates um ihre eigene Existenzbedingung. Damit ist die Diskussion über die Vermeidung dieser Gefahrenlage für die Demokratie eröffnet. Hoffentlich sehen die Volksvertreter im Bundestag mittlerweile ein, dass, angesichts der anhaltenden, sich verstärkenden Parteienvielfalt, das gegenwärtige Wahlrecht nicht zu stabilen Regierungen, sondern zu andauernden Verfassungsstörungen führen wird.

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