SPD-Parteitag Brutalstmöglicher Neubeginn

Andrea Nahles Quelle: dpa

Andrea Nahles hatte es nie leicht mit der SPD und die SPD nie mit ihr. So fällt auch ihre Wahl aus: Sie ist von Beginn an eine versehrte Vorsitzende. Und der wirtschaftspolitische Kurs bleibt offen.

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Um kurz nach 14 Uhr an diesem historischen Sonntag strebt Andrea Nahles plötzlich weg von ihrem Platz vor der Bühne. Ihr Ergebnis ist noch nicht verkündet. Es ist keine Flucht, aber es sieht ein bisschen so aus. Sie läuft auf die blau schimmernde Leinwand hinter der Parteitagsbühne zu, neben sich Olaf Scholz. Sie sind schnell umringt von ihrem hektisch herbeigerufenen engsten Berater-Kreis. Die Mienen sind ernst. Und nach allem, was man den Gesichtern ablesen kann, sind es auch die Worte, die fallen. So sehen also Sieger aus.

Die jüngere Geschichte der SPD und ihrer Vorsitzenden hat die Höhen und Tiefen eines alpinen Gebirges. Die 66 Prozent, die Nahles wenig später zur ersten Frau an der Spitze in der fast 155-jährigen Geschichte machen, fügen sich dort bestens ein. Nahles‘ Wahl ist historisch und sie fällt historisch schlecht aus.

Woran das liegt? Simone Lange, die Flensburger Herausforderin, hält einerseits eine bemerkenswert sortierte Rede, die ganz gezielt Stiche setzt. Erneuerung geht nur mit neuen Köpfen, ist die Kernbotschaft. Und wie in ihrer Kampagne angelegt, inszeniert sie sich als Agenda-und-Hartz-Abschafferin. So realitätsvergessen, so sozialpopulistisch das auch sein mag: es findet am Ende den Zuspruch eines satten Viertels der Delegierten.

Die SPD hat ihr Gefühl für die Sorgen und Nöte normaler Bürger verloren. Sie setzt stattdessen auf postmoderne Vielfaltseuphorie. Tatsächlich nötig ist dagegen die Rückkehr zu einer linken Politik der Wirklichkeit.

Andererseits: Andrea Nahles und die SPD, das war immer schon ein kompliziertes, spannungsvolles Verhältnis. Ein Liebling der Basis war sie nie, nicht als Juso-Chefin, nicht als Generalsekretärin, nicht einmal als Arbeitsministerin, die den Mindestlohn und die Rente ab 63 durchbrachte. Nahles ist nun endgültig die stärkste Frau der Partei. Aber gleichzeitig von Beginn an eine versehrte Vorsitzende. Auch das kann nur die SPD.

Wie umgehen mit dem Sozialstaat der Zukunft? Wie umgehen mit Digitalisierung und Kapitalismus? Nahles stellt in ihrer Rede selbst dazu viele Fragen. Was ihr aber vorschwebt jenseits des Bekannten es bleibt an diesem Tag offen. Ihr Wort von der „solidarischen Marktwirtschaft“ schwebt zwar über allem, aber ohne erkennbare Kontur und Schärfe.

Wenn dieser Parteitag eines lehrt, dann dass die SPD selbst noch nicht weiß, was sie will. Und dies dann an ihrem Spitzenpersonal auslässt. Martin Schulz war einmal, Nahles’ Beginn wird markiert von brutalstmöglicher Halb-Solidarität, und Olaf Scholz immerhin Kanzlerkandidaten-Kandidat scheitert spektakulär bei seinem Versuch, einen Funken Begeisterung in den Saal überspringen zu lassen.

Bleibt der Eindruck, dass eine Persönlichkeit vom Schlage eines jungen Oskar Lafontaines, der Auftritt eines unverbrauchten, dynamischen und Sehnsüchte stillenden neuen Kopfes; dass so jemand diese tief verunsicherte Partei im Sturm erobern würde.

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