„Staatsfeindliche Bewegung“ Im Visier gewaltbereiter „Reichsbürger“

Eine verbesserte Erfassung der Behörden zeigt: Die „Reichsbürger“-Szene in Deutschland ist größer als bislang angenommen. Erste Zahlen zu Straftaten zeigen nun, wie stark die Extremisten den Staat im Visier haben.

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Sichergestellte Waffen von Reichsbürgern: Aktuell sind nach Angaben der Bundesregierung rund 1000 Personen aus der Reichsbürger-Szene legal im Besitz von Waffen. Quelle: dpa

Berlin Für ihn galten seine eigenen Regeln. Daher durfte er seiner Meinung nach auch auf Polizisten schießen, die ihn in seinem Haus „überfielen“: So erklärte die Richterin die tödlichen Schüsse eines „Reichsbürgers“ im Oktober 2016 auf einen SEK-Beamten im mittelfränkischen Georgensgmünd. Der Fall warf ein Schlaglicht auf das Gefahrenpotenzial der Szene. Denn bis dato agierten Reichsbürger und sogenannte Selbstverwalter weitgehend unter dem Radar der Sicherheitsbehörden.

Erst nach dem tödlichen Vorfall in Bayern wurden die Reichsbürger in ganz Deutschland zum Sammelbeobachtungsobjekt des Bundesamtes für Verfassungsschutzes und der Länder. Seitdem werden auch die ihnen zugeordneten Straftaten gesondert erhoben. Erste Zahlen für ganz Deutschland liegen der Bundesregierung nun vor.

Für das Jahr 2017 (Stichtag 28. Dezember) seien im Datenbestand des Bundeskriminalamts (BKA) insgesamt 771 Straftaten gemeldet worden, darunter 619 vollendete und 152 versuchte Straftaten, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic. Die Antwort liegt dem Handelsblatt vor. Vergleiche mit früheren Jahren sind nicht möglich, da politisch motivierte Straftaten von Reichsbürgern beziehungsweise sogenannten Selbstverwaltern vom BKA erst seit Anfang 2017 erhoben werden.

Die Bandbreite der Delikte reicht von Körperverletzung, Volksverhetzung, Brandstiftung, Erpressung, Nötigung und Widerstrand gegen Vollzugsbeamte bis hin zu Propagandadelikten, Sachbeschädigungen und Verstößen gegen das Waffengesetz. Die meisten Straftaten wurden den Angaben zufolge in Bayern (314) registriert. Danach folgen Nordrhein-Westfalen (71), Niedersachsen (66), Brandenburg (64) und Baden-Württemberg (58). Die Bundesländer mit den wenigsten Straftaten sind Hamburg (0), Bremen (2) und das Saarland (2).

Im Jahr 2017 wurden von Reichsbürgern außerdem 116 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger begangen, meist handelte es sich dabei um Nötigung oder Beleidigung. In einem Fall kamen auch Waffen zum Einsatz. In Niedersachsen wurden demnach laut BKA-Erkenntnissen die meisten Delikte registriert (23), gefolgt von Baden-Württemberg (22) und Nordrhein-Westfalen (15).

Das Bundesinnenministerium sieht die Entwicklung mit großer Sorge. „Aufgrund ihres hohen Personenpotenzials, ihrer Gewaltbereitschaft und ihrer besonderen Affinität zu Waffen geht von Reichsbürgern und Selbstverwalter ein erhöhtes Gefährdungspotenzial, auch und gerade gegenüber Amts- und Mandatsträgern, aus“, sagte eine Ministeriumssprecherin dem Handelsblatt.

Das Ministerium nehme die Bedrohung durch dieses Phänomen sehr ernst. „Zur Durchführung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeitsprüfung hat das BMI daher das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie das Bundeskriminalamt angewiesen, die Erkenntnisse zu Reichsbürgern und Selbstverwaltern an die zuständigen Waffenbehörden der Länder zu übermitteln.“ Ziel sei es, den Waffenbesitz von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ zu minimieren.“

Zu „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ zählen die Sicherheitsbehörden Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnen und deren Rechtssystem ablehnen. Dabei berufen sie sich etwa auf das historische Deutsche Reich, auf Verschwörungstheorien oder auf ein selbst definiertes Naturrecht. Sie bestreiten die Legitimation der demokratisch gewählten Repräsentanten oder definieren sich selbst als außerhalb der Rechtsordnung stehend. Der Verfassungsschutz stuft die Reichsbürger als „staatsfeindliche Bewegung“ ein, deren „Gefährdungspotenzial sichtlich gestiegen“ sei.


Grüne sehen „gewaltiges Gefahrenpotential für die innere Sicherheit“

Eine bewaffnete Gruppe innerhalb der Szene plant offenbar sogar den Aufbau einer eigenen Armee. Entsprechende Bestrebungen hätten Verfassungsschutzämter in Ostdeutschland registriert, berichtete kürzlich der „Focus“. Sicherheitskreise hätten bestätigt, dass sich Reichsbürger aus mehreren Bundesländern bei einem konspirativen Treffen mit dem Aufbau einer militärischen Organisation befasst hätten. Einige Reichsbürger hatten sich auch schon einmal zu einer Art Polizeitruppe zusammengeschlossen - samt Verkleidung.

Die Bundesregierung geht – Stand: 30. September 2017 – deutschlandweit von rund von rund 15.000 Personen in der Reichsbürger- und Selbstverwalter-Szene aus. Die Verfassungsschutzbehörden haben die Zahl jedoch inzwischen nach oben auf rund 16.500 Personen (Stichtag 31. Dezember 2017) korrigiert. Davon seien etwa 900 Personen Rechtsextremisten. Das Personenpotenzial war zu Beginn der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden im Herbst 2016 zunächst auf etwa 10.000 geschätzt worden.

Laut Angaben der Bundesregierung sind den Sicherheitsbehörden zudem etwa 20 Reichsbürger- und Selbstverwalter- Gruppierungen bekannt, die „bundeslandübergreifend Aktivitäten entfalten“. Zu diesen Gruppierungen wird demnach ein Personenpotenzial in einem niedrigen vierstelligen Bereich gezählt.

Der kontinuierliche Zulauf beruht nach Angaben des Verfassungsschutzes zum einen auf einem verbreiteten ideologischen Angebot der Szene sowie zum anderen auf einem verbesserten Informationsaufkommen der Verfassungsschutzbehörden. „Die verschärfte politik- und staatsfeindliche Agitation von Angehörigen der Reichsbürger-Szene, die 2016 vor allem in sozialen Netzwerken stattfand, blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Gesamtspektrum“, schreibt die Behörde auf ihrer Webseite. „Die Aufrufe zum Widerstand gegen den Staat und seine Repräsentanten verstärkten vielmehr deren Dynamik und Gewaltbereitschaft.“

Nach Kenntnis des Verfassungsschutzes vernetzt sich die heterogene Reichsbürger-Szene vorwiegend über das Internet – insbesondere über soziale Netzwerke, da diese auch ohne feste Strukturen einen „hohen Verbreitungsgrad einschlägiger Propaganda“ ermöglichten. „In dieser Hinsicht entfalteten insbesondere die seit Ende 2015 entstandenen Gruppierungen deutliche Aktivitäten“, erklärte die Behörde. So wiesen Reichsbürger und Selbstverwalter eine „hohe Affinität zu Waffen“ auf und sei „oftmals gewaltorientiert“. „Dabei sehen sie sich selbst als vom Staat verfolgt und berufen sich auf eine angebliche Notwehrlage.“

Aktuell sind nach Angaben der Bundesregierung rund 1.100 Personen aus der Reichsbürger-Szene legal im Besitz von Waffen. Sie verfügen demnach über eine oder mehrere „waffenrechtliche Erlaubnisse“. Bei rund 15.000 bis 16.500 Reichsbürgern entspricht das einer Quote von etwa 7 Prozent. Zum Vergleich: Der Anteil waffenrechtlicher Erlaubnisse an der Gesamtbevölkerung beträgt laut Bundesregierung zwei Prozent.

Die Grünen-Innenexpertin Mihalic zeigte sich besorgt angesichts dieses Befunds. „Hierin offenbart sich ein gewaltiges Gefahrenpotential für die innere Sicherheit, wenn man die umstürzlerischen Ziele der Reichsbürger vor Augen hat“, sagte Mihalic dem Handelsblatt.

Spätestens seit am 19. Oktober 2016 in Georgensgmünd/Bayern ein „Reichsbürger“ auf Polizisten schoss und dabei einen von ihnen tödlich verletzte, hat sich die Lage grundlegend geändert. Der Verfassungsschutz nimmt die Szene stärker unter die Lupe – mit einem besonderen Augenmerk auf Reichsbürgern, die als Rechtsextremisten eingestuft werden und Waffen besitzen.

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