In der Stadt, in der zur Zeit große Krisen aus Politik und Wirtschaft zusammentreffen, herrscht beim Chef entspannter Optimismus. „Ich komme von der Eröffnung eines Tunnels, das ist für den Verkehr eine wichtige Sache“, sagt Christian Lösel, Oberbürgermeister von Ingolstadt, und fällt in seinen Stuhl. Dann redet der CSU-Politiker nur noch von Erfolgen. Neue Konzerthalle, mehr Baugenehmigungen, Radwege, ein modernes Museum, läuft, läuft, läuft.
Bloß, Ingolstadt, war da nicht was? Seit dem VW-Abgasskandal zittern die deutschen Standorte des Konzerns angesichts der möglichen Folgen. Jobs, Steuereinnahmen, Sponsoring, alles, was das Herz eines Lokalpolitikers erfreut, ist in Gefahr. Ingolstadt, Heimat der VW-Tochter Audi, steht besonders im Fokus. Soeben kam heraus, dass auch Audi bei den Abgaswerten geschummelt hat.
Ähnlich betroffen ist die Stadt beim Thema Flüchtlinge: Eines der beiden großen Registrierungszentren, durch die bald Zehntausende Flüchtlinge geschleust werden, entsteht in Manching, vor den Toren der Stadt. Doch Lösel bringt das nicht aus der Ruhe. Audi gehe es gut, vom Registrierungszentrum profitiere die Stadt sogar. Im Gegenzug habe man dem Land eine attraktive Gewerbefläche „abgeluchst“.
Nirgendwo wächst die Produktivität rasanter
Der Optimismus des CSU-Manns verwundert nur den, der die Entwicklung dieser nur scheinbar beschaulichen Stadt nicht kennt. Ingolstadt ist eine der am schnellsten wachsenden Großstädte Deutschlands. Gemessen am Bestand werden an der Donau so viele Baugenehmigungen für Wohnungen erteilt wie in keiner anderen Großstadt.
Eigentumswohnungen sind hier mittlerweile teurer als in Nürnberg, Düsseldorf oder Köln. Nirgendwo sonst wurde in den vergangenen Jahren pro Kopf so viel neuer Wohlstand geschaffen, nirgendwo sonst wächst die Produktivität rasanter, nirgendwo sonst haben sich zentrale ökonomische Kennziffern so verbessert wie in Ingolstadt.
Das zeigt der große Städtetest von WirtschaftsWoche, ImmobilienScout24 und IW Consult Köln. Die Studie untersucht alle 69 kreisfreien Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern und besteht aus drei Teilen: Das Niveauranking vergleicht Ist-Werte ausgewählter Kennziffern, also zum Beispiel die aktuelle Zahl der Baugenehmigungen.
Das Dynamikranking hingegen betrachtet die Veränderungsraten in fünf zurückliegenden Jahren. Da das Basisjahr in diesem Jahr 2009 ist, zeigt die Studie auch, welche Städte sich am stärksten vom Finanzkrisenjahr 2009 erholt haben.
Zusätzlich wurde erstmals der Zukunfts-Index 2030 ermittelt. Dieser gibt Auskunft, welche Stadt derzeit das beste Potenzial für den Aufbruch in die digitale und vernetzte Wirtschaft der Zukunft hat. Grundlage der Bewertungen sind mehr als 100 Indikatoren aus den Bereichen Arbeitsmarkt, Wirtschaftsstruktur, Immobilienmarkt und Lebensqualität.
Immense Bedeutung der Automobilindustrie
Im Dynamikranking verweist Sieger Ingolstadt die Konkurrenten Wolfsburg, Heilbronn, Ludwigshafen und Würzburg auf die Plätze – ganz hinten liegen die Ruhrgebietsstädte Gelsenkirchen, Mülheim und Oberhausen. Das Niveauranking gewinnt wie in den Vorjahren die bayrische Landeshauptstadt München. Ingolstadt schafft Rang 2, gefolgt von Erlangen, Stuttgart und Frankfurt. Die rote Laterne geht an Gelsenkirchen.
„Die Schere zwischen starken und schwachen Städte geht weiter auseinander – und die Dominanz des Südens nimmt weiter zu“, resümiert Michael Bahrke, der wissenschaftliche Leiter der Studie bei IW Consult. Unter den Top Ten des Niveaurankings befinden sich gleich sieben Vertreter aus Bayern und Baden-Württemberg, im Dynamikranking sind es deren fünf, davon vier aus Bayern.
Niveauranking: Das sind die besten Städte Deutschlands
Frankfurt am Main
Punkte: 59,3
Das Niveauranking umfasst 53 Einzelindikatoren und basiert auf den aktuellsten verfügbaren Ist-Werten. Die Zahlen sind gerundet. was zu gleicher Punktzahl bei unterschiedlichen Rängen führen kann. Aufgenommen wurden alle kreisfreien Städte ab 100.000 Einwohner.
Quelle: IW Consult
Stuttgart
Punkte: 60,2
Erlangen
Punkte: 62
Ingolstadt
Punkte: 62,9
München
Punkte: 66,3
München etwa punktet mit einer regen Gründerszene, boomendem Tourismus und hoher Lebensqualität. In keiner anderen Großstadt verzeichnet ImmobilienScout24 so viele Gesuche pro Mietwohnung, was für eine ungebrochene Attraktivität spricht. Prosperieren kann eine Stadt schließlich nur, wenn Menschen dort leben wollen und die Wirtschaft genügend Arbeitskräfte findet.
„Der wichtigste Standortfaktor einer Stadt ist mittlerweile die Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal“, sagt der Regionalökonom Georg Hirte, Professor an der Technischen Universität Dresden. Die Kosten hingegen seien „für die meisten Unternehmen mittlerweile zweitrangig und spielen zumindest bei innerdeutschen Investitionsentscheidungen keine so große Rolle mehr.“
Niveauranking: Das sind die schlechtesten Städte Deutschlands
Duisburg
Punkte: 41,4
Das Niveauranking umfasst 53 Einzelindikatoren und basiert auf den aktuellsten verfügbaren Ist-Werten. Die Zahlen sind gerundet. was zu gleicher Punktzahl bei unterschiedlichen Rängen führen kann. Aufgenommen wurden alle kreisfreien Städte ab 100.000 Einwohner.
Quelle: IW Consult
Bremerhaven
Punkte: 41,3
Oberhausen
Punkte: 39,2
Herne
Punkte: 37,7
Gelsenkirchen
Punkte: 36,5
Der Städtetest zeigt zudem einmal mehr die immense Bedeutung der Automobilindustrie für den Standort Deutschland – und ist zugleich eine Warnung vor Monostrukturen, mit denen man hoch steigen, aber auch tief fallen kann. In keinem anderen Land der Welt hat die Autobranche einen so großen Anteil an der Wertschöpfung. Sie beschäftigt in Deutschland direkt und indirekt mehr als 1,8 Millionen Menschen und setzt gut 350 Milliarden Euro um, ein Anteil von mehr als 20 Prozent am Gesamtumsatz des verarbeitenden Gewerbes.
Fast alle Autostädte – Wolfsburg (VW), Stuttgart (Daimler, Porsche), Ingolstadt (Audi), München, Regensburg (BMW), Leipzig (Porsche) – schneiden im Test formidabel ab; auch Hannover und Braunschweig (VW) entwickeln sich gut.
Ingolstadt macht viel richtig
In Ingolstadt schließt sich das Audi-Werk direkt an den Stadtkern an – und übertrifft dessen Größe um das Doppelte. Der Konzern beschäftigt hier 43.000 Menschen, knapp die Hälfte der 95.000 Erwerbstätigen, die es in der Stadt insgesamt gibt. Das hat Ingolstadts OB Lösel offenbar im Hinterkopf, wenn man ihn nach Risiken befragt. „Audi ist die ertragreichste Tochter des Konzerns, da wird man in Wolfsburg nicht auf die Idee kommen, ausgerechnet hier zu sparen“, glaubt er. Er rechne mit „keinerlei“ Stellenabbau am Standort.
Und die Gewerbesteuer? „Die wird in diesem Jahr sicher ausfallen, vielleicht auch noch im nächsten.“ Es gebe aber Nachzahlungen aus vergangenen Jahren, und deshalb werde die Stadt „bei keiner geplanten Investition Abstriche machen“. So klingt ein Kommunalpolitiker , der die Worte Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizit nur aus der Zeitung kennt.
Diese Stadt macht zweifellos viel richtig. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Audi seine wichtigsten Investitionen hier tätigt. Im Sommer haben sich Stadt und Unternehmen darauf geeinigt, dass Audi sein neues Entwicklungsgelände auf einem ehemaligen Raffinerie-Gelände an der Donau baut. Die millionenteure Sanierung der Altlasten übernimmt Audi gleich mit.
Ambivalenter Osten, trister Westen
Nach einem ähnlichen Modell hat die Stadt schon einen problematischen Gießereistandort am Rande der Altstadt revitalisiert. Hier entstand in den vergangenen Jahren die Audi-Akademie, ein Fortbildungszentrum mit angeschlossener Kongresshalle und einem Hotelkomplex, den die Stadt dringend brauchte. Zugleich aber wird die Stadt immer abhängiger von Audi. Airbus, lange Zeit der zweite große Arbeitgeber in der Region, baut in Manching nach und nach 1000 Stellen ab.
Dynamikranking 2015: Das sind die Verlierer
Duisburg
Punkte: 43,9
Das Dynamikranking basiert auf den Veränderungswerten von 40 Einzelindikatoren in einem Fünfjahreszeitraum. Grundlage sind die aktuellsten verfügbaren Werte. Die Zahlen sind gerundet. was zu gleicher Punktzahl bei unterschiedlichen Rängen führen kann. Aufgenommen wurden alle kreisfreien Städte ab 100.000 Einwohner; 2 Städteregion/Region/Stadtverband
Quelle: IW Consult
Kiel
Punkte: 43,4
Gelsenkirchen
Punkte: 43
Mühlheim an der Ruhr
Punkte: 43
Oberhausen
Punkte: 41,1
Sorgen müssen sich die ostdeutschen Städte machen. Ihre Aufholjagd ist erst einmal gestoppt. Ob Potsdam oder Dresden, Leipzig oder Rostock – sie alle rutschten im Dynamik-Ranking ab, wenn auch nicht dramatisch. IW-Consult-Experte Bahrke will daher noch keinen Abgesang auf den Osten anstimmen. „Die Wirtschaft war wegen ihrer geringen Exportquote von der Krise weniger stark betroffen. Entsprechend ging es danach auch weniger dynamisch nach oben.“
Dass der Osten lebt, zeigt der neue Zukunftsindex der WirtschaftsWoche: Dort schaffen es mit Jena und Dresden zwei Vertreter in die Top Ten.
Dynamikranking 2015: Das sind die Gewinner
Würzburg
Punkte: 57,6
Das Dynamikranking basiert auf den Veränderungswerten von 40 Einzelindikatoren in einem Fünfjahreszeitraum. Grundlage sind die aktuellsten verfügbaren Werte. Die Zahlen sind gerundet. was zu gleicher Punktzahl bei unterschiedlichen Rängen führen kann. Aufgenommen wurden alle kreisfreien Städte ab 100.000 Einwohner; 2 Städteregion/Region/Stadtverband
Quelle: IW Consult
Ludwigshafen
Punkte: 58
Heilbronn
Punkte: 58,4
Wolfsburg
Punkte: 64,5
Ingolstadt
Punkte: 68,6
Ein Fiasko ist der Städtetest für große Teile des einwohnerstärksten Bundeslands Nordrhein-Westfalen. Der große Verlierer ist – wie in den Vorjahren – das Ruhrgebiet. Gleich 12 der 15 schlechtesten Städte im Niveauranking liegen im Pott.
Zwar ist Abstieg in Phasen des Booms relativ zu verstehen. Die Beschäftigtenzahl ist zwischen 2009 und 2014 selbst in Herne, in dieser Kategorie auf dem letzten Platz, um 0,5 Prozent gestiegen. Auch das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt ist im Westen nur in Mülheim gesunken, selbst in typischen Krisenstädten wie Oberhausen (plus fünf Prozent) oder Duisburg (plus 15 Prozent) legte die Wirtschaftsleistung zu.
Die Top 5 im Zukunftsindex
Heidelberg
Punkte: 58, 4
Der Zukunftsindex setzt sich aus folgenden 13 Einzelindikatoren zusammen: Breitbandversorgung, Abiturquote, Industrie 4.0-Orientierung der Wirtschaft, Anteil der Beschäftigten in Forschung/Entwicklung und kreativen Dienstleistungen, Ingenieurquote, Zahl der Forschungsinstitute und Patentanmeldungen, Anteil der Künstler, Zahl der Theater-und Opernbesuche, Anteil der Hochschulabsolventen in MINT-Fächern und Kreativfächern.
Quelle: IW Consult
Jena
Punkte: 58,5
München
Punkte: 59,9
Erlangen
Punkte: 64,5
Darmstadt
Punkte: 65,9
Doch viele Städte im Westen verlieren den Anschluss an die bundesweite Entwicklung – auch solche, die bisher als Zugpferde galten. So landet Bonn nur noch auf dem 48. Rang des Dynamikrankings, Köln und Münster liegen noch dahinter.
Fast zweistellig gewachsene Beschäftigungszahlen
Eine Überraschung ist vor diesem Hintergrund die Platzierung des bergischen Städtedreiecks Wuppertal, Solingen und Remscheid. Wuppertal rückt im Dynamikranking um 15 Ränge vor (Platz 39), im Niveau geht es vier Plätze nach oben (56). Remscheid, im vergangenen Jahr in der Dynamik bundesweites Schlusslicht, schiebt sich auf Rang 57. Solingen verbessert sich um 13 Ränge (Platz 47).
Das sind die Verlierer im Zukunftsindex
Gelsenkirchen
Punkte: 41,8
Der Zukunftsindex setzt sich aus folgenden 13 Einzelindikatoren zusammen: Breitbandversorgung, Abiturquote, Industrie 4.0-Orientierung der Wirtschaft, Anteil der Beschäftigten in Forschung/Entwicklung und kreativen Dienstleistungen, Ingenieurquote, Zahl der Forschungsinstitute und Patentanmeldungen, Anteil der Künstler, Zahl der Theater-und Opernbesuche, Anteil der Hochschulabsolventen in MINT-Fächern und Kreativfächern.
Quelle: IW Consult
Herne
Punkte: 40,9
Solingen
Punkte: 40,7
Bottrop
Punkte: 40,2
Hamm
Punkte: 38,4
Alle drei Städte punkten mit fast zweistellig gewachsenen Beschäftigtenzahlen seit 2009, in Solingen und Wuppertal steigt auch die Einwohnerzahl. Die IW-Experten sind gerade für Wuppertal mit seinem automobilen Cluster und einer starken Pharmaindustrie rund um die Universität zuversichtlich. Und sie loben die interkommunale Zusammenarbeit im Bergischen – eine Strategie, die anderswo von Stadtoberen gern ausgebremst wird.
„Gerade bei den Gewerbeflächen ließen sich viele Engpässe lösen, wenn Kommunen stärker zusammenarbeiten und etwa gemeinsame Gewerbegebiete ausweisen würden. Doch hier dominieren oft noch lokale Eitelkeiten“, kritisiert Regionalökonom Hirte.
Underdogs aus der Provinz
Auf viele Standortfaktoren habe die Kommunalpolitik wenig oder gar keinen Einfluss, etwa auf die Geografie. „Die wichtigsten Stellschrauben, die Kommunalpolitik selbst bewegen kann, sind eine effiziente Verwaltung, ein gutes Gewerbeflächenmanagement und hohe Lebensqualität“, so Hirte.
Und um Erfolg zu haben, muss eine Stadt nicht übermäßig groß sein. Der Städtetest zeigt: Auch jenseits der Ballungsräume sind ökonomische Hotspots entstanden.
Die Macht der Provinz – sie zeigt sich zum Beispiel in Pforzheim und Heilbronn. Die beiden baden-württembergischen Städte sind im Dynamik-Ranking die Aufsteiger des Jahres. Pforzheim schießt von Platz 32 auf 12. Heilbronn, im Vorjahr auf Rang 24, landet diesmal auf dem dritten Platz.
Die 125.000-Einwohner-Stadt am Neckar punktet mit einem Mix aus Industrie und Dienstleistungswirtschaft. Hier gibt es Maschinenbauer und Autozulieferer ebenso wie Nahrungsmittelindustrie (Unilever, FrieslandCampina) – und obendrein eine der bundesweit niedrigsten Kriminalitätsraten. Die Arbeitslosenquote liegt bei nur vier Prozent, besonders bei der Beschäftigung von Frauen und älteren Arbeitnehmern ist die Stadt vorbildlich. Die 2019 in Heilbronn stattfindende Bundesgartenschau sorgt schon jetzt für Aufträge; auf einer 30 Hektar großen Industriebrache entsteht ein komplett neues Stadtquartier, in dem später einmal 3500 Menschen wohnen und 1000 arbeiten sollen.
Auch in Niedersachsen gibt eine ganze Reihe solcher Underdogs: Sie heißen Wolfsburg, Braunschweig, Osnabrück oder Oldenburg und vereinen ebenfalls hohe ökonomische Potenz auf kleiner Fläche.
Doch Ingolstadt, der Stern des Südens, ist ihnen weit voraus – jedenfalls derzeit.
Nur 45 Minuten dauert die Fahrt nach München, neu gebaute Hochhäuser sollen künftig die Wohnungsnot lindern, gerade bekommt das Audi-Werk einen eigenen Bahnhalt und selbst die Fußballer vom FC Ingolstadt spielen in der ersten Bundesliga.
Ob Provinz oder Weltstadt, das ist auch eine Frage der Einstellung.