Städteranking 2018 Dauersieger München: Die Kehrseiten des Erfolgs

München: Die Kehrseite des Wirtschaftserfolgs Quelle: imago images

München ist die wirtschaftsstärkste Stadt der Republik und gewinnt auch 2018 den Städtetest der WirtschaftsWoche. Doch für die Menschen in der Stadt ist der Erfolg zwiespältig. Verstopfte Straßen, überfüllte Bahnen, kaum bezahlbare Wohnungen, zu wenig Kita-Plätze: München platzt aus allen Nähten, und die Stadtoberen haben kein Konzept. Ein persönlicher Abgesang von WirtschaftsWoche-Korrespondent Matthias Kamp.

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Als wir vor beinahe sieben Jahren nach München zogen, war dies für uns der Aufstieg schlechthin in punkto Lebensqualität, Genuss, und auch in punkto Luxus. Fünf Jahre hatte ich mit meiner Frau und unseren drei Söhnen in Peking gelebt. Fünf Jahre hatten wir uns über ständige Staus, über Smog mit Sichtweiten von teils weniger als 50 Metern, über zensiertes Internet und gefährliche – weil vergiftete – Lebensmittel geärgert.

Nun also lockte München. Wir freuten uns auf Berge und Seen, auf blauen Himmel, auf Wanderungen und Skitouren, den Isarstrand in der Münchner Innenstadt, bayerische Lebensart und, ja, auch auf deftiges Essen und gutes Bier. München ist überschaubar, die Innenstadt lässt sich komplett zu Fuß bewältigen – manche sagen, die bayerische Landeshauptstadt sei ein Dorf. Mehr Kontrast zum Moloch Peking mit seinen mehr als 20 Millionen Einwohnern geht wohl kaum.

Und der Start in München verlief mehr als vielversprechend. Wir fanden mühelos eine bezahlbare Wohnung in der Innenstadt, nicht weit vom Ostbahnhof. Beim Krippenplatz für unseren jüngsten Sohn wurde es schon schwieriger. Doch nach einigen Monaten Wartezeit klappte auch das. In Bayern boomt die Konjunktur, es herrscht Vollbeschäftigung, und so fand meine Frau schnell einen neuen Job.

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Es gibt diesen Satz von den Vorzügen in Städten, die man, wenn man dort lebt, viel zu wenig nutzt. Wir genossen sie intensiv, wann immer uns die Arbeit Zeit dazu ließ. An den Wochenenden im Sommer ging es zum Wandern in die Berge rund um den Tegernsee, im Winter zum Skifahren an den Spitzingsee oder ins nahe Österreich. Bei gutem Wetter findet man uns immer noch auf dem Viktualienmarkt, entweder im Biergarten oder draußen bei Wein und Seafood bei Fisch Witte oder Poseidon. Nach der Arbeit liegen wir in der warmen Jahreszeit gerne am Isarstrand gerade unterhalb des Müllerschen Volksbades; es ist ein bisschen wie Urlaub jeden Tag.

Tiefgreifende Veränderungen kündigen sich bisweilen durch scheinbare Nebensächlichkeiten an, sind oft zunächst kaum wahrnehmbar. Was mit München passiert, merkten wir beispielsweise daran, dass wir in unserer Straße, einer Seitenstraße mit Reihenhäusern, immer seltener einen Parkplatz fanden. Irgendwann kam der Tag, als ich auf dem Heimweg vom Büro an U-Bahn-Haltestellen erstmals Angestellte der städtischen Verkehrsgesellschaft in gelben Warnwesten erblickte. Wie in Tokio drücken sie die Pendler in die Züge. Als unser jüngster Sohn 2014 von der Krippe in eine städtische Kita wechseln sollte, bot man uns ausschließlich Plätze mit einer Betreuungszeit bis halb drei Uhr nachmittags an – nicht machbar, wenn beide Elternteile berufstätig sind. Wie vielen anderen Paaren in München blieb auch uns nur eine private Kindertagesstätte. Die breiten sich seit Jahren rasant über die gesamte Stadt aus. Genauso rasant steigen auch die Gebühren: Zwischen 800 und 1000 Euro im Monat sind normal. Die Qualität dagegen ist überschaubar, denn der Münchner Markt für Erzieher und Erzieherinnen ist leergefegt. Engpass überall.

Jedes Jahr ziehen etwa 20.000 Menschen in die bayerische Landeshauptstadt mit ihren derzeit 1,5 Millionen Einwohnern. Traditionskonzerne wie BMW oder Siemens, auch Tech-Firmen wie Microsoft, Google, Amazon oder IBM stellen jedes Jahr Hunderte neue Mitarbeiter ein. Spitzenuniversitäten wie die TU München und die LMU ziehen Studenten aus aller Welt an. Auch Mittelständler in der Region, oftmals Weltmarktführer in ihren Branchen, wachsen dank der Globalisierung rasant.

Das Problem: Münchens Kapazitäten sind mittlerweile erschöpft. Über Jahrzehnte ist es den Verantwortlichen in Politik und Behörden gelungen, Unternehmen aus der ganzen Welt in die bayerische Landeshauptstadt zu locken, auch durch kluge Ansiedlungspolitik und eine hervorragende Infrastruktur. Jetzt allerdings scheint München an seinem Boom zu ersticken. Und der Wille, in Politik und Bevölkerung, die Stadt noch einmal durch eine Kraftanstrengung wie etwa bei der Bewerbung für die Olympischen Spiele 1972 voranzubringen, ist nicht mehr vorhanden.

Neue Wohnungen: Ja! Aber bitte nicht vor meiner Haustür

Will etwa ein Investor auf einer Wiese im östlichen Stadtteil Trudering Wohnungen bauen, sind Bürgerproteste programmiert. Bauen, na klar, heißt es dann, es braucht schließlich neue Wohnungen, aber bitte nicht vor meiner Haustür. Der Bayer wohnt gerne mitten in der Innenstadt, mitten im Grünen. Ich war schon auf Bürgerversammlungen, auf denen alteingesessene Münchner allen Ernstes gefordert haben, den Zuzug in die bayerische Landeshauptstadt per Gesetz zu verbieten. Wo solche Vorstellungen herrschen, ist es schwer, eine Stadt fit für die nächsten Jahrzehnte zu machen.

Es gibt in München eine S-Bahnstrecke, die die Stadt von West nach Ost durchzieht. Sieben verschiedene Linien laufen durch den Tunnel unter der Innenstadt. Während des Berufsverkehrs ist die so genannte Stammstrecke oft hoffnungslos überlastet, regelmäßig muss die veraltete Trasse gesperrt werden. Die ohnehin erdrückenden Staus auf Münchens Straßen sind dann noch nerviger.

Nach jahrelangem Streit, Protesten und Klagen ist der Bau einer zweiten Stammstrecke nun aber beschlossen, die Arbeiten haben begonnen – die Bürgerproteste gegen den Neubau reißen dennoch nicht ab.

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Besonders heftig ist der Widerstand im Stadtteil Haidhausen. Das ehemalige Arbeiterviertel, nicht weit von uns, ist in den vergangenen Jahren zur neuen In-Gegend der coolen Gutverdiener geworden. In den renovierten Altbauwohnungen leben Berater, Kreative und Finanzer. Bei den Landtagswahlen haben die Grünen nirgendwo in Bayern einen höheren Stimmenanteil geholt als in Haidhausen. In den Straßen des schicken Viertels stehen SUVs, man kauft ein in Läden, die Genuss-Werkstatt oder Brot-Manufaktur heißen. Bei gutem Wetter sitzen die Anwohner entspannt bei laktosefreiem Latte in den Straßencafés entlang der Wörther Straße.
Kommt die Sprache allerdings auf die neue S-Bahn-Röhre, kippt bei vielen schnell die Stimmung. Der Tunnel soll nämlich mitten durch Haidhausen führen. Unnötig und viel zu teuer sowieso sei die neue Stammstrecke, lauten die Klagen. Seit Jahren macht eine Bürgerinitiative in Haidhausen Stimmung gegen das wichtige Projekt. Und doch geht es den meisten im Viertel schlicht darum, Bagger und Baugruben vor der eigenen Haustür zu verhindern – auf dass nur nicht die hippe Großstadtidylle gestört werde.

Satt, genügsam und selbstzufrieden sind viele Münchner, am liebsten soll alles so bleiben wie es ist. Dabei müsste München bei Infrastruktur, Wohnungsbau und öffentlicher Daseinsvorsorge jetzt die Weichen für die nächsten Jahrzehnte stellen, denn die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt dürfte eher noch zunehmen.
Es gibt Dax-Vorstände, die Geschichten wie diese erzählen: Das Unternehmen spricht mit einem Bürgermeister im Großraum München und erläutert seine Pläne: In den kommenden Jahren wolle man in seiner Stadt in eine neue Fertigung investieren und über mehrere Jahre mehrere Tausend Arbeitsplätze schaffen. Dem Bürgermeister entgleiten die Gesichtszüge, entsetzt lehnt er das Vorhaben ab. Begründung: Dann brauche er ja noch mehr Kita-Plätze, Schulen und Parkplätze. Lassen’s mal, passt scho!

Wie satt und selbstgefällig die Stadt ist, zeigte sich einmal mehr an einem sonnigen Sonntag im Juni 2012. Die Isarstrände waren gut besucht, überall wurde gegrillt, das Augustiner-Bier floss in Strömen. An dem Tag sollten die Münchner über den Bau der dritten Startbahn des Flughafens abstimmen. Irgendwann gegen Abend brach an den Isar-Stränden Jubel aus: Das Ergebnis des Referendums war da – die Münchner hatten mit großer Mehrheit gegen den Bau der neuen Piste gestimmt.

Sicher, im Moment wird die dritte Startbahn noch nicht gebraucht. Aber der Zeitpunkt wird kommen, an dem die beiden bestehenden Runways nicht mehr reichen.

Vor einigen Wochen saßen ich und eine Reihe von Kollegen mit Carsten Spohr, dem Vorstandschef der Lufthansa, zusammen. Spohr erklärte uns ausführlich, warum Europas führende Airline in den kommenden Jahren immer mehr Flugzeuge von Frankfurt nach München verlegen will. So sind etwa die Kosten am Münchner Airport um 20 Prozent niedriger als in Frankfurt. Außerdem fliegt man von und nach München pünktlicher wegen der besseren Kapazitäten.

„Es gibt keinen schöneren Flughafen in Europa als München“

Die Lufthansa will München deshalb nach und nach zu einem Drehkreuz für den Asienverkehr ausbauen und dazu mehr Fluggeräte vom Typ A380 an den Flughafen im Süden verlegen. „Es gibt keinen schöneren Flughafen in Europa als München“, schwärmt Spohr. Insgesamt 13.000 Mitarbeiter arbeiten in München für die Lufthansa. Weil der Carrier auf den Langstrecken zunächst immer mehr Großraumflugzeuge einsetzen will, kann die dritte Startbahn etwas später als ursprünglich geplant kommen. Aber Ende des nächsten Jahrzehnts brauche man sie, sagt Spohr.

Ich habe einmal vier Jahre in Singapur gelebt. Während meiner ersten Monate in München entdeckte ich auf den ersten Blick eine Reihe von Parallelen. In beiden Städten fühlt man sich überaus sicher. Man sieht auf den Straßen deutlich mehr Polizei als etwa in Berlin oder Köln. Die Politik ist hier wie dort so interventionistisch wie pragmatisch; das Bildungsniveau ist in Bayern und in Singapur hoch, die Infrastruktur besser als in vielen anderen Städten.

Doch wo Singapur sich ständig neu erfindet, ständig nach Wegen sucht, noch besser zu werden, Lehrpläne umbaut, Gesetze ändert, damit Uber in der Stadt fahren darf, und das Internet noch schneller macht, herrscht in München, verwöhnt von den Erfolgen der Vergangenheit, eine gewisse Lethargie, auch Ratlosigkeit darüber, wie mit den Folgen des Booms für die Menschen umzugehen ist.

Ich war gerade wieder in Singapur und war erstaunt über die Aktivitäten beim Wohnungsbau. Sicher, es werden viele teure Condominiums – Apartmentanlagen mit Pool, Fitnessraum und Security – gebaut. Singapur hat aber auch einen im Großen und Ganzen funktionierenden sozialen Wohnungsbau. In dem südostasiatischen Stadtstaat leben bei hoher Qualität auf einem Quadratkilometer knapp 8000 Menschen, in Paris sind es sogar 22.000, in München gerade Mal 4400. Viel Luft nach oben sollte man meinen.
Doch in München schauen die Stadtoberen teils hilflos teils verzweifelt zu, wie der Freistaat seine einzige öffentliche Wohnungsbaugesellschaft an einen Hedgefonds verkauft.

Gebaut werden in München fast nur noch Wohnungen im Hochpreissegment, auch wegen der wenigen verbliebenen Flächen. Wer Immobilienentwickler oder Behördenvertreter fragt, warum man nicht – wie in Singapur – einfach in die Höhe baut, erntet Unverständnis. Das habe in Deutschland den Beigeschmack von Ghetto, sagt ein Makler. Die Stadt verweist auf Stadtbild und Denkmalschutz. Außerdem gilt in München noch die Verordnung, nach der in der Innenstadt nicht höher als die Frauenkirche gebaut werden darf. Es sind Vorstellungen wie aus einem Märchen aus dem 18. Jahrhundert. Und damit will München sich nun fürs globale Zeitalter rüsten.

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Wer wirklich langfristig denkt, der würde das in der Fläche kleine München vergrößern: im Norden bis Ingolstadt, im Westen bis Augsburg, im Südosten bis Rosenheim, so dass eine echte Metropole entstünde. Schon jetzt pendeln wegen der hohen Immobilienpreise jeden Tag Tausende aus den umliegenden Städten nach München.

Doch solche Überlegungen scheitern am kleinlichen, provinziellen Denken der betroffenen Gemeinden und Städte. Da wird dann gestritten über Gewerbesteuersätze, S-Bahn-Anbindungen oder Zuständigkeiten für die Sozialhilfe. „Wenn man mit einem Bürgermeister redet, geht das gut“, sagt Christian Breu, Geschäftsführer des Planungsverbandes Äußerer Wirtschaftsraum München, „mit 20 Bürgermeistern geht das nicht mehr gut.“ Die Erweiterung der Stadt scheitert an Eigeninteressen, an einem Kartell der Bremser, Besitzstandswahrer und Bedenkenträger.

Wir ziehen übrigens in absehbarer Zeit wieder nach Peking. Dort werden richtig viele Wohnungen gebaut, jedes Jahr eröffnet eine neue U-Bahnlinie, und das Internet ist inzwischen auch schneller.

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