Städteranking Blühende Standorte: Halle und Leipzig heben ab

TechneSphere in Leipzig Quelle: dpa Picture-Alliance

Ostdeutsche Städte holen rasant auf, bieten hohe Lebensqualität und wirtschaftliche Dynamik. Viele Städte im Osten klettern daher im Ranking deutlich nach oben. Ein Besuch in Halle und Leipzig.

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Halle, das war Liebe auf den zweiten Blick. Doch wenn man Mirko Buchholz so dabei zuhört, wie er über die Stadt redet, in der er seit bald 25 Jahren lebt und arbeitet, dann kommt unweigerlich der Eindruck auf: heute würde ein einziger Blick vollkommen reichen.

1997 verschlug es Buchholz für einen Pharmazie-Studienplatz an die Saale. „Ich hatte Halle wirklich nicht auf meiner Karte, als mich die ZVS hierher schickte“, erzählt er. Ob er denn, ganz ehrlich, den Aufbruch ins unbekannte Terrain mal bereute? Kopfschütteln. Er studierte, promovierte und gründete aus einem Fraunhofer-Institut heraus an Ort und Stelle 2018 Periotrap, ein Pharmaunternehmen, das sich neuen Behandlungen zur Bekämpfung von Paradontitis verschrieben hat. „Wir wollen organisch und gesund wachsen. Kleine Schritte, aber mit Mut und Zuversicht.“

Die Firma hat dort ihren Sitz, wo alles seinen Anfang nahm: auf dem Weinberg Campus, nur rund 15 Minuten außerhalb des Hallenser Zentrums. Der Campus bildet eine Stadt in der Stadt, und ist vor allem ein Wachstumsmotor: Universität, renommierte Forschungsinstitute und Unternehmen sitzen hier Tür an Tür, rund 150 Millionen Euro werden in den kommenden Jahren in neue Institute und Büros investiert. Renommierte Konzerne wie Biontech und Wacker Chemie kauften bereits vielversprechende Spin-offs vom Weinberg.

Dort, wo früher die Rote Armee stationiert war und nach der Wende erst der Putz bröckelte, arbeiten und studieren mittlerweile rund 15.000 Menschen an ihrem Aufschwung Ost. Das Areal gehört der Stadt, sie hat es entwickelt, im Laufe von fast drei Jahrzehnten wurde hier  - öffentliche und private Mittel zusammen genommen - mehr als eine Milliarde investiert. Geld, das sich offensichtlich rentiert.

Oxford? Halle!

Campus-Geschäftsführer Ulf-Marten Schmieder ist sich sicher, dass an diesem Ort „mittlerweile eine kritische Masse“ existiere, die die „Freisetzung von weiterer Energie in Form von Synergien, Gründungen und Wachstum“ bewirke. In zehn Jahren solle der Weinberg Campus nicht weniger als einer „der interessantesten Zukunftsorte zum Forschen, Gründen und Unternehmen in Europa“ sein, sagt Schmieder. „Die Leute werden sagen: Gehst du nach Oxford? Nein, ich gehe nach Halle!“

Das nennt man Selbstbewusstsein. Eines, das von ansässigen Gründern wie Mirko Buchholz aber vollauf bestätigt wird. Er habe hier alles, was er benötige, sagt er. Die Anbindung zur Forschung sei exzellent, die Infrastruktur top. Als besonders erfüllend empfinde er, dass in Halle alles aus sich selbst heraus passiere. „Hier gab es keinen Hype, keine dominierenden Firmen oder Geldgeber. Die Renaissance von Halle haben sich die Hallenser selbst zu verdanken. Das macht die Sache nachhaltig.“

von Bert Losse, Sophie Crocoll, Anja Holtschneider

Und nachweislich erfolgreich. Etwas mehr als dreißig Jahre nach der Wende entpuppen sich zahlreiche ostdeutsche Städte nicht nur als kernsanierte Kleinode, sondern als Keimzellen des Aufbruchs. Hübsch anzusehen waren Orte wie Erfurt, Schwerin, Potsdam, Halle und natürlich Dresden oder Leipzig schon lange. Nun jedoch wachsen sie auch kräftig, ziehen neue Talente, Rückkehrer und Gründergeist an, bieten Lebensqualität en masse. Eine ideale Heimat für neue innovativen Firmen.

Im Dynamikranking des diesjährigen WirtschaftsWoche-Städtetests wird das Streben besonders deutlich: Potsdam klettert von Rang 25 auf 9, Mirko Buchholz‘ Halle schafft den höchsten Satz von 42 auf 18, Dresden macht neun Ränge gut auf Position 20, Berlin steht bereits ganz oben. Und Leipzig verbessert sich von einem schon ziemlich guten Platz 8 auf 3. Blühende Standorte.

„Wer einmal hier ist, bleibt auch“

An einem dieser neuen aufblühenden Zentren, genauer: in Leipzig-Lindenau, sitzen Samuel Kermelk und Markus Radmacher in einem Büro mit besonderer Lage und Aussicht – und wundern sich kein bisschen über solche Rankings. Ein paar Meter weiter neben ihren Werken residiert das berühmte Kunstareal Baumwollspinnerei, Epizentrum einer Entwicklung, die die New York Times einst mit dem Begriff „Hypezig“ adelte. 

Die beiden Geschäftsführer selbst schauen durchs Fenster direkt auf den Industriebackstein ihrer Produktionshallen, aber nicht auf ihn. Auf einem der brandroten Gebäude schwebt und thront und ruht eine majestätische Kugel aus seidig-glattem Beton und Glas: der eigentümlich fremde und zugleich unwirklich schöne Baukörper ist ein später Entwurf der brasilianischen Architekturikone Oscar Niemeyer. Und ziemlich sicher die schönste Kantine Ostdeutschlands.

Ja, sie hätten „einen sehr reizvollen Standort, im doppelten Sinne: das ist ein tolles Areal, mit Wachstumspotenzial. Und wir sind in eine Stadt eingebunden, die immer attraktiver wird“, sagt Kermelk. Er führt den Tramhersteller Heiterblick, der gerade mit rund 150 Mitarbeitern den deutschen Nahverkehrsmarkt aufrollt; sein Kollege Radmacher leitet Kirow, einen Weltmarktführer unter anderem für Eisenbahnkräne. Nachhaltige Mobilität und weltweit gefragte deutsche Ingenieurskunst verbinden sich hier unter einem Familieninhaberdach zu einem außergewöhnlichen Industriestandort, den sie Technesphere nennen. Die Niemeyer-Kuppel hat, welch Wunder, dem Ort das definierende Signet geliefert.

Kermelk kam einst aus Aachen in den Osten, ging erst zu Porsche, und erinnert sich nur zu gern an das damals noch spottbillige Paradies der Leipziger Gründerzeit-Altbauten und den Geruch der Kohleöfen. „Die Stadt hat sich rasant verändert“, sagt er. „Zum Immer-Besseren.“

Radmacher, auch er aus dem Rheinland, meint manchmal, der Gentrifizierung der letzten grauen Ecken quasi zuschauen zu können. „Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Stadt sich weiter wandelt.“ Leipzig sei mittlerweile ein Standort, an dem man leben und arbeiten wolle, nicht müsse. „Wer einmal hier ist, der bleibt auch.“

Die beiden laden ein zum Spaziergang übers Werkgelände. In der ersten Halle steht ein gelb glühender Track Layer von Kirow, ein Schienenverlegefahrzeug, groß wie ein Bus, Kostenpunkt: siebenstellig. Er wartet darauf, nach Australien verschifft zu werden. Eine Halle weiter werden gerade moderne Straßenbahnen für die Stadt Bielefeld geprüft. Ein weiterer Großauftrag für Heiterblick.

Wie viel sich verändert hat, merken beide auch an Details: Produktabnahmen direkt im Werk, stellen sie fest, sind bei Kunden mittlerweile begehrte und umkämpfte Events. Man muss nicht nach Leipzig. Man will. Die Stadt selbst sei mittlerweile schon sehr selbstbewusst, sagt Kermelk noch. Mehr als andere ostdeutsche Städte. Aber sein Blick fügt hinzu: nicht zu Unrecht.

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