
An manchen Tagen kommt sich Ernst Bürger vor wie Bill Murray im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. So bekannt kommt Bürger vor, was er jeden Tag erlebt. Vor zehn Jahren schon sollte der Beamte mit der markanten Hornbrille Deutschland und seine Verwaltung ins digitale Zeitalter führen. Damals leitete Bürger im Innenministerium (BMI) das Referat für E-Government. Den elektronischen Personalausweis, den es in Deutschland seit 2010 gibt, hat er mit entwickelt. Mehr als 50 Millionen Deutsche besitzen den Ausweis im Scheckkartenformat mittlerweile. Sie dürften sich mit ihm gegenüber Behörden online identifizieren und könnten ihn auch nutzen, um ein Dokument elektronisch zu unterschreiben.
Tatsächlich weiß kaum jemand wirklich, was der Ausweis alles vermag. Und fast niemand besitzt das spezielle Lesegerät, das man braucht, um ihn effektiv nutzen zu können. Also ist die Karte vor allem ein schönes Souvenir, mehr nicht. Die jahrelange Arbeit dafür war für die Katz.
Heute verrichtet der Beamte Bürger wieder jeden Tag Dienst an der Digitalisierungsfront. Derzeit amtiert er als stellvertretender Leiter der Abteilung O („Verwaltungsmodernisierung, Verwaltungsorganisation“) im BMI. Und wieder hat er den Auftrag erhalten, die digitale Revolution in Deutschland einzufädeln – diesmal in Form eines Onlinebürgerportals, das die Verwaltung der Bundesrepublik digitalisieren soll. „Wir sprechen von theoretisch 5500 Verwaltungsverfahren“, sagt Bürger. Eltern zum Beispiel sollen künftig automatisch eine Nachricht erhalten, wenn ihnen Kindergeld zusteht. Ein enormer Bequemlichkeitszuwachs für Millionen Deutsche.





In Bürgers Einheit werkeln gerade mal fünf Leute an dem Zukunftsprojekt. Klar, die technische Umsetzung übernehmen Dienstleister, auch die Bundesländer arbeiten zu. Aber die groteske Unterausstattung zeigt, wie schwer sich die Politik mit digitaler Verwaltung, aber auch mit der digitalen Agenda generell tut. Der Beamte Bürger fühlt sich in schwachen Momenten durchaus an den Flop mit dem elektronischen Personalausweis erinnert: „Wir sind nicht da, wo wir sein müssten.“
Das hält die Politik nicht davon ab, wieder mal ganz große digitale Versprechen zu machen. Das Bürgerportal ist Dauerthema im Bundestagswahlkampf. Seit Wochen stellt Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ein einheitliches Onlineportal für Bund, Länder und Kommunen in Aussicht. Auch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz möchte innerhalb von fünf Jahren ein digitales „Deutschlandportal“ schaffen. „Ich will, dass der Staat online geht – und zwar 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche“, sagt Schulz. Die Wahrheit ist: Die Politiker der großen Koalition tönen vor allem deshalb so laut, weil sie so lange geschwiegen haben. Weil sie wertvolle Zeit haben verstreichen lassen. Weil der Standort Deutschland immer noch nicht digital, sondern weitgehend offline ist.
Eine ernüchternde Bilanz
„Deutschland hinkt anderen Ländern stark hinterher“, sagt Iris Plöger, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Von der Digitalisierung der wichtigsten 100 Verwaltungsleistungen für Bürger und Unternehmen sei Deutschland etwa „noch genauso weit entfernt wie zu Beginn dieser Legislaturperiode“. Die Politik habe es schlicht und einfach „versäumt, wichtige Meilensteine zu setzen“.
Deutschland bräuchte dringend eine belastbare Glasfaserinfrastruktur für schnelles Internet, aber getan hat sich herzlich wenig. Mehr WLAN-Hotspots in Cafés und Restaurants? Weitgehend Fehlanzeige. Eine intelligente Regulierung von Internetplattformen? Vertagt. Immerhin hat Merkel die Mängel erkannt. Im Interview mit der WirtschaftsWoche klagte sie vor wenigen Wochen: „Europa ist nicht mehr der Innovationsmotor der Welt. Wir müssen alle Mühe daransetzen, es auf einigen Gebieten wieder zu werden.“ Es klang, als bewerbe sich Merkel erstmals als deutsche Regierungschefin. Sie ist es aber im zwölften Jahr.