Standort Deutschland Womit die Deutschen weltweit erfolgreich sind

Deutschland trumpft mit der Kraft seiner Normalität auf. Das hilft auch in wirtschaftlich schweren Zeiten. Chefreporter Dieter Schnaas über Provinzialität, Pflichtgefühl und Bürokratie als Standortvorteile.

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Eine junge Frau mit erhobener Quelle: dpa

Was ist deutsch? Nun, zunächst einmal, dass sich die Deutschen darüber so viele Gedanken machen. Und warum machen sich die Deutschen darüber so viele Gedanken? Nun, weil es sie erst seit zwei Jahrhunderten gibt. Johann Gottlieb Fichte, der sittenstrenge Idealist, hat den Deutschen das Deutsche 1808 gewissermaßen ins Stammbuch geschrieben: Weil es sie nicht gebe, müsse die deutsche Nation erfunden werden. Und weil sie sich stets reingehalten habe von britischem Handelsneid und französischem Kriegsgeist, falle ihr – als pumperlgesundem Volkskörper sozusagen – wie von selbst die Aufgabe zu, die Geschäfte des Weltgeistes führen.

Heinrich Heine, der mokante Romantiker, hat sich darauf dreieinhalb Jahrzehnte später seinen ironischen Reim gemacht: „Franzosen und Russen gehört das Land / Das Meer gehört den Briten / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritten.“ Immerhin, 1844, vier Jahre vor der Frankfurter Nationalversammlung, musste das noch niemanden beunruhigen. Deutsch sein war damals tatsächlich noch keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas, woran man Bayern, Pfälzer und Westfalen, aber auch Sachsen-Meininger, Weimar-Eisenacher und Schaumburg-Lipper erinnern musste: kein Heimatbegriff und keine Herkunftsbeschreibung, sondern ethisches Sollen und ideeller Anspruch. Kurzum: Weil die Deutschen nicht Deutsche waren, wurden sie „deutsch“. Und weil sie ihr nationales Ungenügen verspürten, verlegten sie ihre Identitätssuche in weltabgewandte Reiche: „Hier üben wir die Hegemonie / Hier sind wir unzerstückelt“ / „Die andern Völker haben sich / Auf platter Erde entwickelt.“

Richard Wagner, der gesamtkunstwerkliche Universaldenker, hat das Wesen der Deutschen drei Jahrzehnte später zum Bonmot kondensiert: „Deutsch sein heißt“, so Wagner, „eine Sache um ihrer selbst willen tun.“ In seinem Aufsatz „Was ist deutsch?“, erschienen 1878 in den „Bayreuther Blättern“, dichtet der Komponist den Deutschen mit antikapitalistischem Furor eine Gemütslage an, die Max Weber weitere vier Jahrzehnte später „protestantisch“ nennen sollte: „Der Deutsche ist konservativ, sein Reichtum gestaltet sich aus dem Eigenen aller Zeiten; er spart und weiß alles Alte zu verwenden. Ihm liegt am Erhalten mehr als am Gewinnen. Er begehrt nichts von Außen; aber er will im Innern unbehindert sein. Er erobert nicht, aber er lässt sich auch nicht angreifen.“

Bekanntlich hat Richard Wagner sich mit seinen beiden letzten Sätzen böse geirrt. Mit dem Rest seiner nationalen Selbsteinschätzung aber weist er weit über seine Zeit und Deutschlands dunkelste Epoche hinaus in die Gegenwart. Das Edle und Schöne nicht um des Vorteils, ja nicht einmal um des Ruhmes und der Anerkennung willen, sondern eben „um seiner selbst willen tun“, das erinnert die heutige Jugend nicht mehr an kunstästhetischen Heroismus oder nationale Gründelei, sondern das hallt ihr anno 2008 positiv im » Slogan vom „Land der Ideen“ entgegen, in Tüfteleien und Erfindungen, in Präzisionsmaschinen und weltmeisterlich vielen Patentanmeldungen – und in einer beispielhaften Grundlagenforschung.

Man darf also nicht vergessen, dass der Erfolg der Deutschen sich zu einem stattlichen Teil ihrer Hinterwäldlerei verdankt: Aus der Idee von sich selbst ist er erwachsen – und aus dem dörflichen Handwerk. Schon den römischen Historikern war bekannt, dass die Germanen keine Städte bewohnen, in ihnen nur Gräber für Lebende sahen. Tatsächlich liebten es unsere Vorfahren, nachdem sie aus dem Wald gekrochen waren, landsmannschaftlich klein, subsidiär, föderal, weshalb es heute noch so viele Müllers gibt und Schmidts und eine Renaissance der Tante-Emma-Läden – und weshalb die Deutschen bis heute lieber herstellen als Handel treiben, mehr Sympathie für Qualität aufbringen als für Wettbewerb.

In Zünften organisiert und mit Befähigungsnachweisen bewehrt, beschränkten die mittelalterlichen Handwerker nicht nur die Gewerbefreiheit; sie hielten und hoben auch das Niveau ihrer Meister. Ihr Fleiß und ihre Häuslichkeit, ihr Aufstiegsethos und ihr Qualitätsbewusstsein waren die Basis für den Welterfolg des deutschen Mittelstandes, der bis heute aus engen Schwarzwald-Tälern heraus seine Kraft entfaltet – und der bis heute die Aufzehrung seiner „inneren Werte“ durch die monetäre Profanität des angelsächsischen Kapitalismus fürchtet: „Die Deutschen waren noch nie bekannt dafür, dass sie Geld verdienen wollten“, so der Münchner Schriftsteller und Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler: „Den Deutschen können Sie nicht zum Profit bringen, sein Herz ist dagegen.“

Wofür aber schlägt des Deutschen Herz? Das ist die falsche Frage. Denn der Deutschen Herz schlägt nicht für… – es schlägt aus Pflichtgefühl. Politisch gesehen, hat es uns nicht immer zum Vorteil gereicht. Ökonomisch gesehen schon. Die Deutschen sind „ehrlich, gründlich, ernsthaft, ordentlich, zuverlässig, pünktlich“; so steht es auf den Internet-Seiten des Architekturbüros Deutschland, einem Think-Tank von acht international tätigen Firmen, die sich als Botschafter einheimischer Architektur verstehen und die die Vorzüge deutscher Baumeisterei bewerben. Die berufliche Selbstbeschreibung der Nationalarchitekten fällt betont nüchtern aus; sie gründet auf „Professionalität, Seriosität und Qualität“. Ihr Ziel ist es, das Bewusstsein für deutsche Architektur zu schärfen – und „schlicht und einfach mit unserer Arbeit zu überzeugen“. Geht es deutscher?

Die Architekten knüpfen mit ihrer Selbstbewerbung ganz un-ironisch an den Made-in-Germany-Mythos an, den man sich weltweit erzählt, ob in Russland, Brasilien, Indien oder Nigeria: Die Deutschen sind gründlich, genau, solide und gewissenhaft, sie halten sich an Recht, Ordnung, Gesetz und Vertrag, sie arbeiten korrekt, profund, besonnen und fehlerfrei. Natürlich, sie übertreiben zuweilen. Sie zertifizieren Arbeitsschritte, normieren Bananen, schreiben vor, dass Windkraftanlagen einer Mitarbeiter-Toilette bedürfen. Und doch ist es gerade die Beflissenheit der Deutschen, aus der die Größe des Exportweltmeisters erwachsen ist: Der kultivierte Standard bringt Markenprodukte hervor. Das qualifizierte Mittelmaß behauptet sich auf dem Weltmarkt. Der gute Durchschnitt bürgt für Spitzenqualität.

Deutschland trumpft nicht mehr mit ideellem Überschuss, bellizistischem Eifer und demonstrativer Unterwerfungslust auf, sondern mit dem hohen Niveau seiner Normalität, seiner glückenden kleinbürgerlichen Alltäglichkeit. Oh ja, es ist hierzulande immer noch schick, gelegentlich die Nase zu rümpfen über die Mittelmäßigkeit der Deutschen – das verspricht Distinktion und Exklusivität. Die Rechte erhebt sich dabei vornehmlich über die Jugend, die über DJ Bobo und Charlotte Roche ihren Sinn für Mozart und Goethe verliert, die Linke vorzugsweise über die Alten, die dem Charme von Schützenfesten erliegen, weil sie nicht lieber Foucault lesen. Was beide Lager dabei vergessen, ist die Mittelmäßigkeit ihrer eigenen Argumentation. Denn Deutschland hat nie nur Standard produziert, sondern oft auch den Standard gesetzt – und gehalten.

Deutschland ist Durchschnitt und Spitze zugleich – und deshalb hat sich die WirtschaftsWoche nach Beispielen für das beeindruckend vitale Tagesgeschäft zwischen Flensburg und Bad Reichenhall, Saarbrücken und Görlitz umgesehen. Herausgekommen ist eine kleine Serie, die mit der heutigen Ausgabe beginnt. Dabei wird man in süddeutschen Flecken Deutschlands ökonomische Leistungsfähigkeit bewundern können, in sächsischen Rathäusern seine behördliche Kraft, in badischen Laboren seine innovativen Potenziale und in pfälzischen Weinbergen seine regionalkulturelle Identität. Man wird auf engagierte Unternehmer in properen Landstrichen treffen, auf beeindruckende Beamte an aufgeräumten Schreibtischen, auf sachverständige Wissenschaftler an millimeterfeinen Messinstrumenten und auf hemdsärmelige Landarbeiter, die was von Bio, Qualität und Marketing verstehen.

Was man dabei aber immer antrifft, sind Rechtschaffenheit, Pflichtgefühl, Uneigennützigkeit, Fleiß – und zwar ohne jede Beimischung von Zucht, Befehl, Gehorsam, Obrigkeit und Antisemitismus. 90 Jahre nach dem Ende des Königreichs Preußen und gut 60 Jahre nach der Befreiung Nazi-Deutschlands durch die Alliierten sind das gute Nachrichten.

Die Deutschen sind nicht mehr, so noch mal Heine, „das hölzern pedantische Volk / Noch immer ein rechter Winkel / In jeder Bewegung, und im Gesicht / Der eingefrorne Dünkel“. Anton Wohlfahrt (in Gustav Freytags „Soll und Haben“), Diederich Heßling (in Heinrich Manns „Der Untertan“) und Jens Ole Jepsen (in Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“) haben ganz sicher noch das Zeug zum Unterrichtsstoff; als typisierende Psychogramme zum Zwecke der Gegenwartsdiagnose taugen sie nicht mehr.

Bürokratie, Provinzialität, Pflichtgefühl und Mittelmaß klingen in Deutschland nicht mehr nach Adolf Eichmann und der „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt), sondern nach der Trivialität des zivilisatorischen Fortschritts. Mehr noch: Sie sind zu Synonymen geworden für Deutschlands typische Vorzüge: für die entlastende „Hintergrunderfüllung“ (Arnold Gehlen) seiner starken Institutionen der Rechtstaatlichkeit und Demokratie (Bürokratie); für die kulturelle Vielseitigkeit seines Föderalismus (Provinzialität); für die soziale Dimension seiner Marktwirtschaft, die auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung gründet (Pflichtgefühl) – und für die kleinbürgerlich Sorge um das gute Leben, die Bedingung ist für das gelegentlich Herausragende in Wirtschaft und Wissenschaft (Mittelmaß). Kurzum: Seit die deutsche Kleingeisterei nicht mehr versucht, sich zum magister mundi aufzuschwingen, ist sie unser nationaler Konkurrenzvorteil.

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