Ersten wissenschaftlichen Auswertungen zufolge führt das 9-Euro-Ticket nicht dazu, dass viele Menschen ihr Auto stehen lassen. Noch sind die Daten des Bundes und von Verkehrsforschern unvollständig, allerdings könnte das verbilligte Ticket für den Nahverkehr ein anderes Ergebnis bringen als den Klimaschutz und die Mobilitätswende zu befördern. Mit dem 9-Euro-Ticket könnte zusätzlicher Verkehr erzeugt statt vom Auto auf öffentliche Transportmittel verlagert worden sein. Was bringt Menschen dazu, sich anders fortzubewegen? Fragen an Dirk von Schneidemesser vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam.
WirtschaftsWoche: Herr Schneidemesser, nach zwei Monaten 9-Euro-Ticket scheint der Autoverkehr nicht abgenommen zu haben, wenn auch mehr Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Was für Erkenntnisse haben Sie?
Dirk Schneidemesser: Nach den letzten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigt sich ein sehr kleiner Rückgang bei den Autofahrten, aber eine deutliche Zunahme der Bahnreisen.
Heißt das, dass die Leute eben nun in der Freizeit mehr unterwegs sind und dann eben mit der Bahn?
Das lässt sich noch nicht an den Daten erkennen. Es gilt immer noch, dass die Bahn nicht für alle Fahrten genutzt werden kann: Es fehlen Strecken, auf manchen Strecken sind die Züge zu voll, manche Verbindungen werden selten bedient. Bisher hat sich ja nur der Preis für den Nahverkehr verändert, das Angebot ist bis auf ganz wenige Ausnahmen gleichgeblieben.
Bedeutet das womöglich sogar, dass der Preis für einen Umstieg vom Auto auf die Bahn weniger entscheidend ist als ein anderes Angebot?
Investitionen in diese öffentliche Infrastruktur wären ganz wichtig. Wenn wir in Deutschland dauerhaft einen höheren Anteil öffentlichen Verkehr haben will, wird es nicht anders gehen. In Deutschland kann man fast überall gut und effektiv mit dem Auto hinkommen. Es gibt aber viele Orte, Dörfer, die vom Bahnverkehr abgeschnitten sind.
Sind Investitionen in Zugverbindungen in jeden Winkel des Landes überhaupt realistisch? Schienen sind teuer und eine Bahn lohnt doch nur, wenn mehr Menschen mitfahren als in einem Bus oder Minibus…
Zunächst kommt es auf die Prioritäten an. Wir haben keine Kerosinsteuer. Wenn wir die hätten, könnten wir die Einnahmen zum Beispiel in eine solche Infrastruktur stecken. Seit 60, fast 70, Jahren haben wir die Infrastruktur fürs Auto bevorzugt. Realistisch wäre, die Prioritäten zu ändern und es etwa wie in der Schweiz zu machen. Dort ist jedes Dorf und jedes Tal mit einer Bahn oder dem Bus angebunden, die einmal in der Stunde fahren. In der Schweiz wird achtmal soviel Geld pro Kopf in die Bahn investiert wie in Deutschland.
Die Schweiz hält das schon sehr lange so. Kennen Sie ein Beispiel, wo erfolgreich Verkehr vom Auto zu anderen Arten der Mobilität verlagert wurde? Wie geht das?
In den Niederlanden gibt es eine ähnliche Tradition. Dort wurde aber zusätzlich in Infrastruktur rund ums Bahnfahren investiert, damit es attraktiver ist. An den Bahnhöfen gibt es Fahrrad-Parkhäuser und Leihräder, damit man gut zum Zug kommt oder sich in einer anderen Stadt flexibel bewegen kann. Es gehören viel mehr Bausteine zu einer Verkehrswende dazu als ein zeitweise billiges Ticket. Es reicht nicht, wenn die Leute einen Sommer lang wie Sardinen in heißen Zügen unterwegs sind.
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