Steinmeier kritisiert Erdogan „Eine Frage der Selbstachtung unseres Landes“

Von Präsident zu Präsident: Frank-Walter Steinmeier hat Recep Tayyip Erdogan scharf kritisiert und die neue Türkei-Politik der Bundesregierung verteidigt. Ökonom Marcel Fratzscher mahnt eine europäische Lösung an.

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Ein Bild aus früheren Tagen: Steinmeier traf im November 2016 als Außenminister auf Präsident Erdogan. Jetzt hat sein Nachfolger Sigmar Gabriel einen Kurswechsel in der Außenpolitik gegenüber der Türkei eingeleitet. Quelle: AP

Berlin Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die schärfere Politik der Bundesregierung gegenüber der Türkei begrüßt und Staatschef Recep Tayyip Erdogan scharf kritisiert. „Viele, die auch in diesem Staat kooperativ auch mit ihm und seiner Partei in den letzten Jahren gearbeitet haben, werden jetzt verfolgt, werden ins Gefängnis gesteckt, werden mundtot gemacht. Und das können wir nicht hinnehmen“, sagte Steinmeier im ZDF-Sommerinterview. „Das ist auch eine Frage der Selbstachtung unseres Landes, finde ich, hier deutliche Haltsignale zu senden.“

Steinmeier begrüßte auch den offenen Brief von Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) an die in Deutschland lebenden Türken. Er könne sich vorstellen, dass bei den drei Millionen Deutschtürken der Schmerz am allergrößten sei, wenn sie beobachteten, dass die von vielen Menschen gebauten Brücken nun von Ankara abgerissen würden. „Das ist wirklich bitter und deswegen war ein Wort an die türkischstämmige Bevölkerung nötig“, sagte Steinmeier in dem Interview, das das ZDF an diesem Sonntagabend senden will.

Gabriel hatte zuvor den hier lebenden Türken die Wertschätzung Deutschlands versichert. „Sie, die türkischstämmigen Menschen in Deutschland, gehören zu uns – ob mit oder ohne deutschen Pass“, schrieb der SPD-Politiker in einem am Samstag auf deutsch und türkisch verbreiteten offenen Brief. Dies bleibe klar, gleichgültig wie schwierig die politischen Beziehungen seien. „Die Freundschaft zwischen Deutschen und Türken ist ein großer Schatz.“ CSU-Chef Horst Seehofer und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz machten sich wegen des autoritären Kurses der Türkei für weiteren finanziellen Druck stark.

Auch Kanzleramtschef Peter Altmaier sagte in der „Bild am Sonntag“: „Das Verhalten der Türkei ist inakzeptabel. Die getroffenen Maßnahmen sind absolut notwendig.“ Zugleich versichert der CDU-Politiker: „Wir wollen gute Beziehungen zu diesem großen und wichtigen Land. Das geht aber nur, wenn die Türkei ein Rechtsstaat ist und bleibt.“ Altmaier betonte: „In der Region ist die Türkei eines der demokratischsten Länder. Und damit meine ich gar nicht Herrn Erdogan, sondern das Land und die türkische Gesellschaft insgesamt.“

Als Reaktion auf die Verhaftung des Menschenrechtlers Peter Steudtner und anderer Deutscher hatte Gabriel am Donnerstag Konsequenzen bekannt gegeben. Das Auswärtige Amt verschärfte seine Reisehinweise. Zudem stellt Deutschland die Absicherung von Türkei-Geschäften der deutschen Wirtschaft durch sogenannte Hermes-Bürgschaften auf den Prüfstand. Überdacht werden sollen auch Investitionskredite, Wirtschaftshilfen und EU-Vorbeitrittshilfen.

Nach einer Emnid-Umfrage für die „Bild am Sonntag“ ist eine große Mehrheit der Bürger in Deutschland mit der Türkei-Politik der Bundesregierung unzufrieden. 76 Prozent der Befragten sagten, dass sich die Bundesregierung von Präsident Erdogan zu viel gefallen lasse. Nur 12 Prozent sahen das nicht so. Weitere 12 Prozent machten keine Angaben.

Seehofer mahnte finanzielle Konsequenzen für Ankara an. Die EU solle bis 2020 vorgesehene Zahlungen von gut vier Milliarden Euro an die Türkei als EU-Beitrittskandidat stoppen, sagte er am Samstag bei einer CSU-Veranstaltung. SPD-Chef Schulz forderte ebenfalls ein Einfrieren dieser Mittel für die Türkei. „Das sind konkrete Maßnahmen, die man sofort ergreifen kann“, sagte er im Deutschlandfunk.

Ob der Türkei die Hilfen gestrichen werden können, ist laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ (Samstag) indes fraglich. Im laufenden Programm IPA II gebe es eine frühere Klausel nicht mehr, dass die Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze eine Voraussetzung für das Gewähren der Hilfen sei. Nach einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags sei daher „eine Suspendierung der Hilfe nicht möglich, solange das Beitrittsverfahren der Türkei andauert“.

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnte vor einem Alleingang. Der schärfere Kurs sei richtig. „Es sollte aber europäische Lösungen geben“, sagte Fratzscher der Deutschen Presse-Agentur.

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