Stephans Spitzen

Kindes-Missbrauch

Cora Stephan Politikwissenschaftlerin

Bilder weinender Kinder werden gern benutzt, um Propaganda zu betreiben: Zeig ein hungerndes Kind, und die Spendengelder fließen. Wer sein politisches Anliegen so garniert, betreibt soziale Pornographie.

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Ein Kind weint in einem Flüchtlingslager in Indonesien. Quelle: dpa

Kindesmissbrauch treibt den Volkszorn zu Recht in ungeahnte Höhen – nur dort nicht, wo Kindertränen eingesetzt werden, um das Publikum für allerhand erhabene Anliegen zu gewinnen. Al Gores berüchtigter Propagandafilm über den schmelzenden Globus bediente sich eines schluchzenden Mädchens, das die Zuschauer inniglich bittet, die Welt vorm Klimatod zu retten. Wer könnte da widerstehen? Auch Sigmar Gabriel bemühte jüngst hungernde (und darob gewiss weinende) Kinder, als er für eine weitere „Rettung“ Griechenlands warb. Die Herzen aller gut und recht Denkenden dürften ihm zugeflogen sein. Weinende Kinder retten wir hierzulande noch ein bisschen lieber als weinende Rentner, weshalb wohl auch kaum jemand nachgefragt hat, wie viele Kinder in Griechenland denn nun hungern müssen (und wie viele Rentner dort oder hierzulande in der beneidenswerten Lage sind, 60 Euro am Tag vom gedeckten Konto abzuheben). Es ist das alte Lied: Moralisieren macht unangreifbar, weshalb es in der Politik mittlerweile an der Tagesordnung ist.

Rühmliche Ausnahme diesmal: Angela Merkel. Doch ausgerechnet sie musste sich einen veritablen Shitstorm gefallen lassen, weil sie ein Mädchen zum Weinen gebracht habe – mit der Eiseskälte einer kopfgesteuerten Physikerin.

Dabei hat die Kanzlerin anständigerweise der Versuchung widerstanden, Mädchentränen zu missbrauchen, um sich als Königin der Herzen zu zelebrieren. Sie hat stattdessen der 14-jährigen Reem aus dem Libanon vernünftige Antworten gegeben – die Wahrheit ist auch jungen Menschen zumutbar, insbesondere solchen, die klug und überlegt wirken. Denn Reems Familie hat kein Recht auf Asyl, sie musste nicht aus dem Libanon flüchten – sie ist hier, weil man sich ärztliche Hilfe wünscht, das Mädchen ist gehbehindert.

Die Berufsmoralisierer aber wollen das alles gar nicht so genau wissen, Hauptsache, ein Kind weint. Und das Mantra heißt ja seit eh und je, man dürfe nicht mit Daten und Fakten kommen, wenn es um „die Menschen“ gehe. Das ist wie stets vom Einzelfall her gedacht: wer möchte einem begabten Kind wie Reem versagen, was es sich wünscht?

Auch ich nicht, nebenbei gesagt.

Der aufgeweckte Teenager befriedigt tiefe Sehnsüchte, die Sehnsucht etwa danach, dass, wer zu uns kommt, eine Bereicherung in unserem Sinne ist und kein Problemfall, der vielleicht die örtliche Drogenszene um einen weiteren Dealer bereichert. Und es ist allemal vernünftig und geboten, Menschen nach vier Jahren Integrationsbemühung einen Weg zum Ziel zu eröffnen. Das aber ändert nichts an Recht und Gesetz – und wer das Recht nicht auch durchsetzt, signalisiert, dass es nicht gilt.

Was Wunder also, dass Flüchtlinge aller Kategorien bevorzugt nach Deutschland streben. Wir geben ihnen jeden Anreiz dazu – es wäre anmaßend, ihnen zu unterstellen, dass sie nicht rechnen können.

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