Stephans Spitzen

Wenn Politiker die Gefühle missbrauchen

Cora Stephan Politikwissenschaftlerin

Mit berührenden Einzelschicksalen machen Nahles, Schwesig und andere Politiker Stimmung. Doch Politik ist nicht Literatur. Es wäre Aufgabe der Medien, die Verwechslung des Einzelnen mit dem Allgemeinen zu verweigern.   

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Schwesig (SPD) und Nahles (SPD) in einer Berliner Kindertagesstätte. Quelle: dpa

Es gibt Dinge, hat Thomas de Maiziere einmal gesagt, die man der Bevölkerung nicht erzählen sollte, da sie sie „verunsichern“ könnten. Zum Beispiel harte Fakten und solide Zahlen über das, was sie jetzt und in Zukunft erwartet, wenn der Zustrom nach Deutschland anhält.

Da hat er sein Publikum aber durchschaut! Hart und solide? Kalt und nüchtern? Das mögen die Landeskinder nicht. Wo es doch „um Menschen“ geht! Die Kanzlerin bevorzugt ja auch ein freundliches Gesicht, weil das einfach menschlicher ist. Und so folgt ein jeder der Stimme des Herzens, ohne dass wir erfahren, wohin das führt.

Die persönliche Betroffenheit ist das Markenzeichen des „menschlichen“ Politikers geworden. Wer keinen direkten Zugang zu einem menschlichen Schicksal hat, kennt gewiss jemanden, der jemanden kennt. Familienministerin Manuela Schwesig etwa hat einen Schlosser zum Vater, was für die Rentendiskussion von Belang sei, und einen engen Draht zu unseren Sicherheitskräften, da ihr Neffe Polizist ist. Sie schöpft also direkt aus der Quelle.

Arbeitsministerin Andrea Nahles hat ebenfalls einen direkten Zugang zum Volk, da ihr Vater Maurer in der Eifel war. Deshalb die Rente schon ab 63! Nichts könnte menschlicher sein. Papi ist der Maßstab für alle anderen Mühseligen und Beladenen und die Eifel ist der Nabel der Welt. Es entspricht ungeschminkter Selbsterkenntnis, wenn Nahles im Bundestag das Pippi-Langstrumpf-Lied anstimmt: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Wie hieß das noch in den 70er Jahren? Das Private ist politisch. Politik in der ersten Person. ICH mach mir die Welt...

Dass der Einzelfall exemplarisch sei, prägt schon länger das Verhältnis zur Wirklichkeit in Politik und Medien. Im Spiegel heißt ein Artikel treffenderweise „Geschichte“, die am besten mit einem singulären Schicksal anfängt, das man im Folgenden, gern mithilfe von „Dunkelziffern“, zum Gesamtbild hochrechnet. Wer das scheinbar so Evidente anzweifelt, wird vom mitleidenden Publikum mit Sätzen wie: „Aber ich kenne jemanden, der selbst gesehen hat, wie ...“ ins kaltherzige Abseits gestellt. Allein die Bemerkung, dass die Politik der offenen Grenze auch Kriminellen und Terroristen freien Zugang gewährt, wird gern beantwortet mit: „Meine muslimischen Freunde würden nie...“ Natürlich nicht. Meine auch nicht. Ich bin schließlich nicht mit Terroristen befreundet.

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