Zum allgemein anerkannten Handwerkszeug jedweder ethischen Untersuchung gehört es nun, eine bestimmte Handlung nicht nur je für sich zu betrachten. Vielmehr sind darüber hinaus auch ihre dabei beabsichtigten (ebenso wie ihre nicht beabsichtigten) Folgen zu bedenken. Während sich jede ethische Erörterung aller Fernwirkungen einer Handlung erfahrungsgemäß schnell vom Hundertsten ins Tausendste verlieren kann, so darf doch bei der Frage nach der moralischen Bewertung einer Steuerzahlung jedenfalls ihre nächstanschließende Wirkung nicht außer Betracht bleiben: Die Frage nämlich, was der Steuereintreiber mit der von ihm eingenommenen Zahlung zu tun beabsichtigt bzw. welches weitere Handeln ihm infolge einer gesetzlich pflichtwidrigen Nichtzahlung unmöglich bleibt.
Kurz: Ob derjenige, der eine Steuer nicht bezahlt, tatsächlich moralisch ein „Sünder“ ist, lässt sich nur dann ethisch ordnungsgemäß entscheiden, wenn man zugleich auch bewertet, ob das, was mit seiner erfolgten Zahlung hätte geschehen sollen oder durch seine Nichtzahlung nicht geschieht, seinerseits moralisch akzeptabel ist. Ohne eine solche abwägende Betrachtung ist eine ethisch vertretbare Einordnung des Steuerpflichtigen als „Sünder“ oder „Nichtsünder“ unzulässig verkürzt und mithin schlechterdings unmöglich.
Abseits der von einschlägigen Experten vielleicht noch halbwegs überschaubar zu beantwortenden Frage, ob eine unterbliebene Steuerzahlung formal gesetzeswidrig war, bleibt die Frage nach ihrer materiellen Rechtswidrigkeit. Sollte die ethisch gebotene Abwägung zwischen der Steuereinnahme- und der Steuerausgebeseite nämlich erweisen, dass die moralischen Gründe für die Nichtzahlung auch jenseits der nur individuellen Betrachtung des Handelnden in der gesellschaftlichen Akzeptanzbetrachtung schwerer wiegen als die moralischen Motive und Ziele des anschließenden Steuermitteleinsatzes, dann könnte das Nichtzahlen einer Steuer durchaus als rechtmäßig anzusehen sein. Das Steuereintreiben wäre in diesem Falle folgerichtig spiegelbildlich unrechtmäßig, mit allen hier eingangs dargestellten Konsequenzen.
Käme man demgemäß an den Punkt, dem Steuerstaat in Ansehung beispielsweise entgleisender Großbauprojekte, exzessiver Staatsverschuldung, der Rettung maroder Banken und Staaten oder insgesamt unbeschränkter Zentralbankaktivitäten zu Lasten der Steuerzahler eine nicht unerhebliche Verschwendung von Steuermitteln im Grundsätzlichen anlasten zu müssen, dann verringerte dies nicht nur die Zahl der moralischen „Steuersünder“.
Es wäre dann wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis die Frage im Raum stünde, ob das Nichtzahlen von Steuern notwehr- oder notstandsrechtlich gerechtfertigt ist.