Streiks im öffentlichen Dienst „Gewerkschaften dürfen die Allgemeinheit nicht in Geiselhaft nehmen“

Stillstand nicht nur an Flughäfen: Immer wieder sorgen Streiks in diesen Tagen für Probleme. Quelle: imago images

Der Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst droht zu eskalieren, die Gewerkschaften weiten ihre Warnstreiks aus. Ist das noch verhältnismäßig? Der Arbeitsrechtler Gregor Thüsing fordert eine Reform des Streikrechts – mit zwei zentralen Elementen.

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WirtschaftsWoche: Herr Thüsing, wann ist in Deutschland ein Streik zulässig – und wann nicht?
Gregor Thüsing: Es gibt in Deutschland, anders als in vielen anderen Staaten, kein geschriebenes Streikrecht. Das Recht zum Arbeitskampf leitet die deutsche Rechtsprechung aus der Koalitionsfreiheit des Grundgesetzes ab. Die Folge ist, dass wir kaum konkrete Verhaltens- und Verfahrensregeln für Streiks kennen. Es gilt lediglich, dass legitimes Ziel eines Streiks ein Tarifvertrag sein muss und dass ein Streik die Ultima Ratio darstellt, also das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Und zwar sowohl gegenüber dem Arbeitgeber als auch gegenüber der Allgemeinheit. Wo die Grenze liegt, ist aber sehr schwer zu definieren.  

Im öffentlichen Dienst haben Verdi und der Beamtenbund schon nach der ersten Verhandlungsrunde mit massiven Warnstreiks etwa in Kitas und im Nahverkehr begonnen. Halten Sie das für verhältnismäßig?
Die Gewerkschaften profitieren hier von einem Wandel in der Rechtsprechung. Früher wären verhandlungsbegleitende Warnstreiks unzulässig gewesen. Das Bundesarbeitsgericht hat aber in mittlerweile drei Entscheidungen für eine neue Rechtslage gesorgt und den Gewerkschaften bei Warnstreiks eine weitreichende Gestaltungsmacht zugebilligt.

Die Gewerkschaften dürfen theoretisch das halbe Land lahmlegen, um ihre Forderungen durchzusetzen?
Wir hatten in Deutschland solche Situationen noch nicht, auch nicht in den viel zitierten Siebzigerjahren. Wenn nun tatsächlich branchen- und gewerkschaftsübergreifend der gesamte Personen- und Gütertransport bestreikt wird, müssen die Kollateralschäden in die juristische Bewertung einfließen. Die Gewerkschaften dürfen die Allgemeinheit nicht in Geiselhaft nehmen. Die Arbeitsgerichte sind allerdings traditionell bei Anträgen der Arbeitgeber gegen Streiks sehr zurückhaltend. Nur wenn die Rechtswidrigkeit offensichtlich ist, kann eine Verbotsverfügung ergehen. Es gibt nur einen Punkt, wo die Gerichte bisher – zum Glück – mit Blick auf die Gewerkschaften pingelig sind: Bei Streiks in der öffentlichen Daseinsfürsorge müssen ausreichende Notdienste gewährleistet sein.

Zur Person

Ist es zulässig, zwei unterschiedliche Tarifrunden strategisch zu verknüpfen – so wie es gerade Verdi und die Bahngewerkschaft EVG versuchen?
Ein solches „acting in concert“ stärkt die Kampfkraft der Gewerkschaft enorm. Es ist aber auch hier juristisch unklar, wo die Grenzen liegen. Prinzipiell kann laut Bundesarbeitsgericht ein Solidaritätsstreik zulässig sein – wenn der Schwerpunkt der Gewerkschaft auf dem eigenen Hauptstreik liegt.

Wie bewerten Sie die Kooperation von Verdi mit Klimaaktivisten von „Fridays for Future“, die Protestaktionen miteinander abgestimmt haben?
Der Arbeitgeber kann die Klimaerwärmung nicht durch einen Tarifvertrag verhindern. Deswegen ist er der falsche Adressat.

Die CDU-Mittelstandspolitiker fordern, Streiks im Bereich der Infrastruktur zu regulieren, der Arbeitgeberverband BDA hat jüngst einen ähnlichen Vorstoß gestartet. Ist dies ein Weg, einen Kompromiss zwischen den Interessen der Gewerkschaften und der Allgemeinheit zu finden?
Ja, darüber sollte die Politik nachdenken. Ideen für ein kodifiziertes Streikrecht kursieren ja schon seit Jahren, vor allem für den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge. Im Ausland gibt es entsprechende Vorgaben bereits. Die Regeln müssen freilich den Gewerkschaften genügend Handlungsspielraum lassen und dürfen Arbeitskämpfe nicht über Gebühr erschweren. Es geht darum, den Weg zu einem Tarifvertrag so zu gestalten, dass keine organisationspolitischen Taktierereien möglich sind und unbeteiligte Dritte geringstmöglich belastet werden.

Was ist konkret vorstellbar?
An erster Stelle ein verpflichtendes Schlichtungsverfahren nach einem Scheitern von Verhandlungen. Bevor es zu einer Urabstimmung über einen Streik kommt, müssten die Tarifparteien dann zunächst einen externen Schlichterspruch einholen. Das setzt sie öffentlich unter Einigungsdruck. Erst wenn der Schlichterspruch von der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder oder Arbeitgeber abgelehnt wird, darf gestreikt werden. In einigen Tarifverträgen ist ein solches Procedere in der Vergangenheit sogar ganz ohne den Gesetzgeber installiert worden, zum Beispiel in der Baubranche. Ein weiterer Ansatz für eine Streikreform sind besondere Ankündigungspflichten für die Gewerkschaften.

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Was meinen Sie damit?
Die Idee lautet: Wenn eine Gewerkschaft im sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge oder im Verkehrsbereich streiken will, muss sie Ort und Dauer der Arbeitsniederlegung deutlich vorher bekannt geben. So können sich die Menschen besser darauf einstellen. Eine vertretbare Zeitspanne zwischen Bekanntgabe und Durchführung eines Streiks ist für mich etwa eine Woche. In den USA gibt es gesetzliche Ankündigungsfristen für die Gewerkschaften im Luft- und Bahnverkehr, vergleichbare Regelungen existieren in Frankreich, Italien und Spanien. Auch Großbritannien denkt jetzt darüber nach.

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