Streit um neue Autobahnen Den FDP-Sandkastenstreit kann sich dieses Land nicht leisten

Quelle: imago images

Nach der Wahl in Berlin drohen Teile der FDP in einen Blockademodus zu verfallen. Gefragt wäre mehr denn je ein konstruktiver, zukunftsorientierter Liberalismus. Neue Autobahnen sind dafür nicht nötig. Ein Kommentar.

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Als wären die enormen Herausforderungen in der Energie- und Verkehrspolitik nicht schon groß genug: Es dauerte nur wenige Stunden nach der verheerenden Wahlniederlage der FDP in Berlin, da fiel Wolfgang Kubicki, 70, zurück in die Trotzphase von Drei- bis Vierjährigen. Wenn die Grünen weiterhin gegen neue Autobahnen opponierten, zürnte der FDP-Vize, dann würde die FDP im Gegenzug eben auch neue Stromleitungen blockieren. „Dann kann sich der Robert [Habeck] gehackt legen. (…) Ich habe so einen Hals“, zitiert der Spiegel den polternden Kubicki auf der Berliner Wahlparty der FDP, „ich bin (…) fassungslos und versuche, mir das Ergebnis schönzutrinken.“

Fassungslos kann man auch als Bürger und Wähler werden, ob solch infantiler Sturheit. Man muss nicht jedes einzelne Wort auf die Goldwaage legen, das im akuten Frust nach einer Wahlniederlage beim Sich-Schöntrinken fällt. Aber selbst angetrunken müsste klar sein, dass die beiden Themen inhaltlich nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Neue Stromleitungen sind für ein Industrieland, das sich mitten in der globalen Weiter-Elektrifizierung von Industrie, Gebäuden und Verkehr befindet, lebenswichtig. Und neue Straßen?

Beim Thema Straßenneubau hat die FDP sich auch im nüchternen Zustand eklatant verrannt. Ihr Berliner Spitzenkandidat Sebastian Czaja posierte im Wahlkampf vor ein paar wenigen Metern Fußgängerzone in der zentralen Friedrichstraße, die er wieder für Autos freigegeben haben will – und scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde. Im Bund kämpft die FDP für den Aus- und Neubau des Straßennetzes, auch neue Autobahnen, am besten gleich acht und zehnspurig. Dies sei „Klimaschutz“, argumentiert Verkehrsminister Volker Wissing. Seine Logik: Wenn die Leute weniger im Stau stünden, entstehe weniger CO2.

Dafür gibt es freilich nicht einen einzigen Beleg. Im Gegenteil: Die Verkehrswissenschaft weiß seit Jahrzehnten, dass neue Straßen immer zu mehr Autoverkehr führen. „Just one more lane will fix it“, eine Spur mehr wird den Stau auflösen, dieses Credo der US-Verkehrspolitik aus den 1950ern ist dort krachend gescheitert und wird in den USA inzwischen nur noch spöttisch als klassische Fehleinschätzung zitiert. Bereits 1962 wies der US-Ökonom Anthony Downs das „Grundgesetz des Autobahnstaus“ nach: Egal wie viele Fahrbahnen angeboten werden, die Nachfrage zu Stoßzeiten fülle ihre maximale Kapazität immer schnell wieder aus. Auch in Europa mangelt es nicht an Belegen: 2014 wurde etwa die Londoner Ringautobahn von sechs auf acht Spuren verbreitert. Im ersten Jahr kamen die Autos in London noch etwas schneller voran. Nach drei Jahren war der Verkehr aber schon um 23 Prozent gegenüber 2014 gewachsen und das Staulevel wieder auf altem Niveau.

Und der Berliner Verkehrsforscher Andreas Knie wies kürzlich nach, dass der Autoverkehr auch zwei Jahre nach den Corona-Lockdowns noch immer mehr als 20 Prozent unter den Niveaus von 2019 rollt; ein Grund: viele Beschäftigte nutzen weiter an mehreren Tagen die Woche das Homeoffice. Neue Autobahnen gehen am veränderten Bedarf vorbei. Der Bundesverkehrswegeplan, auf den sich Wissing und andere FDP-Politiker gerne berufen, geht von Erkenntnissen und Leitlinien der 1960er Jahre aus.

Dabei gäbe es mehr als genügend Straßen, an denen sich Volker Wissing und seine Parteifreunde austoben könnte: die bereits bestehen, aber kaputt sind. Nach 16 Jahren des Kaputtsparens unter der Regierung Angela Merkel sind zehntausende Brücken beschädigt; viele so schwer, dass sie nur noch eingeschränkt befahrbar sind, einige, wie die extrem wichtigen Autobahnbrücken bei Leverkusen über den Rhein oder die A 45 zwischen Dortmund und Frankfurt, sind gar einsturzgefährdet. Hier wäre das Steuergeld gut angelegt. In gutem Zustand sind von den rund 40.000 Brücken im Netz der Bundesfernstraßen nur noch 12,9 Prozent. Es gibt also viel zu tun, liebe FDP. Den Sandkastenstreit Wolfgang Kubickis kann sich dieses Land nicht leisten.

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