Für die EU-Länder wurden mit der Einführung des Euro Obergrenzen für das gesamtstaatliche Defizit und den Schuldenstand vereinbart. Die zentrale Anforderung besteht nach verschiedenen Reformen darin, sicherzustellen, dass das strukturelle Defizit das sogenannte mittelfristige Haushaltsziel (MTO) nicht überschreitet.
Für Deutschland wurde das MTO als ein strukturelles Defizit in Höhe von 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung definiert. Die 2011 eingeführte Schuldenbremse sollte sicherstellen, dass das gesamtstaatliche Defizit das MTO für Deutschland insgesamt nicht überschreitet. Konkret sieht die Schuldenbremse vor, dass der Bund ein strukturelles Defizit von höchstens 0,35 Prozent aufweisen darf. Für die Zweige der Sozialversicherung gilt eine Verpflichtung zum Haushaltsausgleich. Da die Verschuldung der Kommunen nicht eingeschränkt wird und die Sonderhaushalte der Länder ausgenommen sind, gilt für die Länder eine strukturelle Defizitobergrenze von null Prozent.
In der Coronakrise wurde die Verpflichtung zur Einhaltung des mittelfristigen Ziels auf europäischer Ebene vorübergehend ausgesetzt. Während ihre Haushalte weiterhin der Schuldenbremse unterliegen, haben sich Bund und Länder auf die Notstandsklausel der Schuldenbremse berufen und die Kreditaufnahme deutlich erhöht. Angesichts der Herausforderungen, die mit der Pandemie und den Maßnahmen zu ihrer Eindämmung verbunden sind, war dies verständlich. Zwar gab es, zumindest auf Bundesebene, erhebliche Reserven. Die Beibehaltung zumindest eines Teils dieser Reserven war aber sinnvoll, um die Einhaltung der Obergrenze der Schuldenbremse nach Ende der Notlage zu erleichtern.
Über den Autor
Thiess Büttner ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg und seit Juni 2018 Vorsitzender des Unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats. Von Januar 2015 bis Dezember 2018 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums.
Allerdings wurde die Notstandsklausel der Schuldenbremse vielfach genutzt, um den Regierungen mehr Finanzmittel bereitzustellen, als zur Bekämpfung der Pandemie erforderlich war. Darauf deutet bereits die Höhe der im Rahmen der Notstandsregel geplanten Defizite hin, die sich im Nachhinein als viel zu hoch erwiesen.
Es ist natürlich schwierig, die für die Bekämpfung einer Pandemie erforderlichen Mittel im Voraus genau abzuschätzen. Als sich aber herausstellte, dass die Mittel nicht benötigt wurden, blieben die Kreditermächtigungen nicht ungenutzt. Vielmehr wurden sie teilweise herangezogen, um erhebliche finanzielle Puffer zu schaffen. Dabei wurde insbesondere das Instrument des „Sondervermögens“ eingesetzt – das sind meist kreditfinanzierte Mittel außerhalb des regulären Haushalts.
Während die europäischen Fiskalregeln diese Sonderhaushalte sachgerecht in vollem Umfang in die Bewertung der nationalen Finanzpolitik einbeziehen, sind sie bei der deutschen Schuldenbremse heute faktisch ausgeklammert. Bis 2021 wurden schuldenfinanzierte Ausgaben der Sonderhaushalte noch auf die Obergrenze der Nettokreditaufnahme des Bundes nach der Schuldenbremse angerechnet. Um jedoch mehr Spielraum zu gewinnen, wurden im Januar 2022 die Anrechnungsregeln geändert.
Damit kann der Bund die Sonderhaushalte nun unter Umgehung der Schuldenbremse für zusätzlichem kreditfinanzierte Ausgaben nutzen. So wurden im Januar 2022 ungenutzte Kreditermächtigungen zur Bekämpfung der Coronakrise im Umfang von 60 Milliarden Euro in den Energie- und Klimafonds übertragen. Als innerhalb eines Monats dann ein weiterer gewaltiger Finanzbedarf identifiziert wurde, waren die Mittel schon im Sonderhaushalt geparkt. Für das nun vom Bundestag beschlossene 100-Milliarden-Euro-Programm zur Ausrüstung der Bundeswehr sollen jetzt neue Schulden aufgenommen und in einen zusätzlichen Sonderhaushalt ausgelagert werden.
Die Höhe der mittlerweile in den Sonderhaushalten verfügbaren Mittel ist beträchtlich. Einschließlich des Sondervermögens für die Bundeswehr verfügt der Bund derzeit nach Schätzungen des Beirats des Stabilitätsrats außerhalb der Schuldenbremse in Sonderhaushalten und Rücklagen über kreditfinanzierte Ausgabenspielräume in Höhe von rund fünf Prozent des BIP. Das Volumen beträgt damit das Zehnfache der vom MTO definierten gesamtstaatlichen Defizitgrenze. Durch die Bildung von Sonderhaushalten und Rücklagen gewährleistet die Schuldenbremse daher nicht mehr die Einhaltung der europäischen Fiskalregeln in Deutschland.
Selbst wenn die Defizitobergrenze der Schuldenbremse von Bund und Ländern künftig eingehalten werden sollte, kann das strukturelle gesamtstaatliche Defizit das mittelfristige Haushaltsziel deutlich überschreiten. Damit wird die Aufgabe des Stabilitätsrats in Zukunft schwieriger.
Dass der Staat in einer Notlage die Möglichkeit haben muss, sich durch Schulden zu finanzieren, ist in der Finanzwissenschaft unbestritten. Auch die Regeln der Schuldenbremse sehen dies explizit vor. Dies hat aber die Finanzpolitik nicht davon abhalten können, das Regelwerk aufzubohren. Die Rückkehr zu geordneten Staatsfinanzen erweist sich nun als außerordentlich schwierig.
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Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 102. Jahrgang, Heft 6/2022.