Streitgespräch über soziale Gerechtigkeit Nehmt’s den Reichsten!

Sahra Wagenknecht, die Frontfrau der Linken, und der Armutsforscher Klaus Schroeder streiten über die soziale Lage – und darüber, wie viel Umverteilung gerecht ist.

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Sahra Wagenknecht im Streitgespräch mit Klaus Schroeder Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Frau Wagenknecht, Herr Schroeder, stellen Sie sich vor, Sie seien Lehrer und müssten Deutschland ein Zeugnis ausstellen: Welche Note geben Sie für die Leistung in „sozialer Gerechtigkeit“?

Schroeder: Ich kann mit dem Begriff ziemlich wenig anfangen. Er ist interessengeleitet, ein politisch-ideologischer Kampfbegriff. Niemand weiß, was sozial gerecht ist – Frau Wagenknecht nicht, ich nicht, niemand. Wahrscheinlich deshalb, weil niemand „soziale Gerechtigkeit“ zu definieren versteht, hat der Begriff so eine erstaunliche Karriere hingelegt. Deshalb kann ich nur meinen eigenen Standpunkt wiedergeben, und der ist relativ. Ich würde Deutschland – verglichen mit anderen Ländern – eine glatte zwei geben.

Zu den Personen

Wagenknecht: Für mich hat Deutschland eine fünf verdient. Natürlich gibt es Länder mit größeren Kontrasten und viel schlimmerer Armut. Aber man muss Deutschland an seinen eigenen Möglichkeiten messen. Nach diesem Maßstab ist das Einkommen sehr ungerecht verteilt. „Soziale Gerechtigkeit“ ist keine Leerformel. Wenn Menschen von ihrem Einkommen nicht mehr leben können, dann ist das nicht nur ungerecht, es ist ein Skandal. Andere hingegen leben in ihrem ererbten Vermögen im größten Luxus, ohne je arbeiten zu müssen. Wieder andere schaden als Finanzjongleure der Allgemeinheit und tragen trotzdem Millionen nach Hause.

Wie gerecht ist Deutschland?

Schroeder: Mein Maßstab ist natürlich nicht Vietnam oder China. Ich orientiere mich an unseren europäischen Nachbarn. Da rangiert Deutschland im oberen Drittel, hinter den skandinavischen Ländern. Dieses Land hat Veränderungen gemeistert, die beispiellos waren: die deutsche Einheit, die millionenfache Zuwanderung, den sozialstrukturellen Wandel. Wenn ich das berücksichtige, dann geht es hierzulande im Großen und Ganzen sozial gerecht zu. Ein Problem sehe ich wie Frau Wagenknecht überall da, wo sich Leistung von Entlohnung entkoppelt. Die Leute empfinden allerdings nicht nur Bankerboni und hohe Managergehälter als ungerecht, sondern auch, dass jemand, der nichts tut, fast so viel Geld erhält wie jemand, der täglich arbeiten geht.

Ist Hartz IV demnach zu hoch, oder sind die Löhne zu niedrig?

Wagenknecht: Die Löhne sind zu niedrig. Ein Mindestlohn von zehn Euro ist überfällig.

In welchen Branchen Mindestlöhne bereits fällig sind
FleischindustrieDie Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fordert einen bundesweiten Mindestlohn von 8,50 Euro für die deutsche Fleischindustrie. In der Branche arbeiten rund 80.000 Arbeitnehmer. Die Bezahlung der Mitarbeiter in der Branche ist bisher über einzelne Haus- oder regionale Tarife geregelt, die nur rund 27. 000 Beschäftigte erfasst. Nach Gewerkschaftsangaben wiesen die Arbeitgeber die Forderung zurück. Dies sei zwar für den Westen möglich, kurzfristig jedoch nicht für die ostdeutschen Bundesländer. Nach mehreren Stunden vertagten die Tarifparteien die Gespräche auf den 17. Dezember. Die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland ist auch Ziel der SPD in ihren Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU. Quelle: dpa
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) warnt vor einem flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Die Politik solle mit einer niedrigeren Lohnuntergrenze - beispielsweise bei sieben Euro - beginnen und sich langsam steigern. Insgesamt würden bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro 17 Prozent der Arbeitnehmer einen höheren Stundenlohn erhalten - die Lohnsumme würde jedoch nur um drei Prozent steigen, so das DIW. Schließlich gebe es viele Niedriglöhner, deren Partner gut verdienen. Das Plus werde dann von der Steuer gefressen. Auch Arbeitslose, die sich etwas dazu verdienen, hätten nichts vom höheren Lohn, da dieser mit den Sozialleistungen verrechnet werde. Der Mindestlohn von 8,50 Euro hätte dagegen zur Konsequenz, dass mehr Unternehmen auf Minijobs als auf Festangestellte setzen und letztlich die Preise bei den sogenannten konsumnahen Dienstleistungen steigen. Frisöre, Kleinst- und Gastronomiebetriebe würden die höheren Lohnkosten an die Kunden weitergeben. Quelle: dpa
In der Friseurbranche wird es ab August 2015 einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro geben. Dem Tarifvertrag wollen laut Angaben von Landesverbänden und der Gewerkschaft Verdi auch mehrere Friseurketten betreten. Bis Ende Juni soll der Vertrag von allen Seiten unterschrieben sein. Der flächendeckende Mindestlohn werde von August 2013 an in drei Stufen eingeführt. Der Osten startet mit 6,50 Euro Stundenlohn, der Westen mit 7,50 Euro. Diese verschiedenen Stufen waren nötig, weil bislang regional sehr unterschiedliche Tarifverträge existierten. In den neuen Bundesländern gab es zum Teil Ecklöhne von nur knapp mehr als drei Euro pro Stunde, wie Verdi-Verhandlungsführerin Ute Kittel sagte. Quelle: dpa
In welchen Branchen Mindestlöhne bereits fällig sindDie Zeitarbeit führt als elfte Branche in Deutschland ab dem 1. Januar 2012 Mindestlöhne ein. Festgelegt ist, dass dann bis zum 31.Oktober 7,89 Euro in Westdeutschland und 7,01 Euro in Ostdeutschland gezahlt werden müssen. Zwischen dem 1. November 2012 und dem 31. Oktober 2013 wird die Lohnuntergrenze dann auf 8,19 Euro in Westdeutschland und 7,50 Euro in Ostdeutschland angehoben. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung Quelle: dpa
Im Wach- und Sicherheitsgewerbe gilt seit dem 1. Juni 2011 ein Mindestlohn von 6,53 Euro. Anders als in den meisten Branchen ist der Tarif hier deutschlandweit einheitlich. Zum 1. Januar 2013 sollen die Stundenlöhne steigen, die Beschäftigten können dann mit einem Tarif zwischen 7,50 Euro und 8,90 Euro rechnen. Foto: dpa  Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
Wäschereien müssen ihren Beschäftigten im Osten 6,75 Euro die Stunde zahlen. Im Westen liegt der Mindestlohn über einen Euro höher, hier bekommen Angestellte mindestens 7,80 Euro. Quelle: dpa
Reinigungskräfte bekommen für den Innendienst einen Stundenlohn von sieben Euro (Ostdeutschland) und 8,55 Euro (Westdeutschland). Genau 2,78 Euro mehr pro Stunde… Foto: dpa

Schroeder: Aber den Hartz-IV-Satz will die Linke doch auch erhöhen.

Wagenknecht: Wer arbeiten möchte und keinen Job findet, den kann man nicht auch noch bestrafen! Die meisten Arbeitslosen sind nicht freiwillig zu Hause, sondern weil die Gesellschaft ihnen keine Chance gibt.

Viele Normalarbeitnehmer finden, die Politik müsste endlich ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken – und nicht immer nur den Hartz-IV-Empfängern.

Wagenknecht: Ohne Hartz IV hätten sich auch die Löhne nicht so miserabel entwickelt. Richtig ist: Die Agenda 2010 war ein massiver Angriff auf den Wohlstand normaler Arbeitnehmer. Viele wurden in Werkverträge und Leiharbeit abgedrängt. Beim Medianvermögen befindet sich Deutschland heute am unteren Ende der Euro-Zone.

Schroeder: Aber Sie wissen doch, woran das liegt: Die Bedeutung von Immobilienbesitz ist geringer. Vor allem aber werden die üppigen gesetzlichen Rentenansprüche – anders als die privaten – nicht angerechnet, obwohl sie ein riesiges Vermögen darstellen. Wenn Sie beides berücksichtigen, sieht die Lage schon ganz anders aus.

Wagenknecht: Wer sich heute von Befristung zu Befristung hangelt, hat weder die Möglichkeit noch die Sicherheit, sich jemals ein Häuschen zu kaufen. Und für die üppigen Rentenansprüche können sich viele Arbeitnehmer, denen ein Alter auf Hartz-IV-Niveau droht, wirklich bedanken.

Ungerechte Vermögensverteilung

Sahra Wagenknecht im Streitgespräch mit Klaus Schroeder Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Ist es gerecht, dass jeder zweite Deutsche so gut wie keinen Besitz hat?

Schroeder: Sie können Menschen nicht zwingen, Vermögen zu bilden. Ich habe es immer für falsch gehalten, dass Gewerkschaften die Beteiligung der Arbeitnehmer an Unternehmen bekämpft haben, weil sie keine zu starke Bindung an die Betriebe wollten. Aber heute entsteht Vermögen eben zumeist über angelegtes Kapital. Ich würde hier für eine Kehrtwende plädieren.

Die exemplarischen Auswirkungen einer Vermögenssteuer

Wagenknecht: Ich bin sehr für Belegschaftseigentum. Gut fände ich zum Beispiel, wenn bei einer Vermögensteuer – für die wir als Partei unbedingt werben – die Steuerschuld auf Betriebsvermögen entfiele, wenn die Summe stattdessen in Firmenanteile für Mitarbeiter umgewandelt würde.

Glauben Sie denn wirklich, dass plötzlich alle Gerechtigkeitsfragen gelöst wären?

Schroeder: Ungleichheit wird es immer geben. Ich frage mich in diesem Zusammenhang stets, wieso die Verteilung der Vermögen in der ehemaligen DDR sehr ähnlich strukturiert war wie heute in der Bundesrepublik. Die oberen 10 Prozent besaßen kurz vor dem Zusammenbruch etwa 60 Prozent des Geldvermögens. Das deutet darauf hin, dass es trotz unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen zu ähnlichen Gefällen kommt.

Wagenknecht: Mich interessiert die DDR wenig, die will ich nicht wiederhaben. Dass die Ungleichheit so groß gewesen sein soll wie heute, entspricht nicht meiner Erfahrung.

Schroeder: Doch – ich schicke Ihnen gerne die Aufstellung der Staatsbank der DDR von 1989/90 zu, dann können Sie das nachlesen.

Wagenknecht: Die wirkliche Spreizung der Vermögen zeigt sich erst, wenn Sie die Relation der reichsten ein Prozent zum Rest der Gesellschaft betrachten. Hier haben wir es mit einer elementaren Ungerechtigkeit zu tun.

Die Steuern sprudeln - und werden verschwendet
Schweine Quelle: AP
Flughafen Kassel-Calden Quelle: dpa
Nürburgring Quelle: dpa
Elbphilharmonie Quelle: dpa
Ein Straßenverkäufer in Kuba Quelle: AP
Euro Hawk Prototyp Quelle: dpa
Tamiflu Quelle: AP

Was meinen Sie mit elementar?

Wagenknecht: Eine gute Ordnung hat viel mit Leistungsgerechtigkeit zu tun. Niemand kann mehrere Hundert Millionen oder gar Milliarden selbst erarbeiten. Das geht nur über die Aneignung der Arbeit anderer. Umgekehrt: Wenn ich 3000 Euro brutto oder weniger verdiene – wie soll ich da je relevant Vermögen bilden?

Schroeder: Sie wollen also nicht die Mittelschicht belasten, sondern nur die, die wirklich viel Vermögen haben? Das wäre mir neu. Dann sprechen Sie über maximal ein Prozent der Haushalte. Darüber können wir uns gerne unterhalten – und ich sage Ihnen ganz offen: Ja, das oberste Hundertstel der Gesellschaft sollte mehr zum Gemeinwesen beitragen als bisher. Nur bitte tun Sie dann nicht so, als ob zur Oberschicht 10 oder 20 Prozent der Bevölkerung gehören – dem ist doch nicht so! Die echten Vermögen sind sehr stark konzentriert auf eine sehr, sehr kleine Schicht.

Wagenknecht: Ja, das ist doch gerade das Problem!

Schroeder: Das Problem ist, dass Linke, Grüne und die SPD immer die Reichen adressieren – aber schon in der Mitte anfangen zu kassieren.

Erbschaft- und Kapitalertragsteuern

Sahra Wagenknecht im Streitgespräch mit Klaus Schroeder Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Gegen höhere Erbschaft- und Kapitalertragsteuern hätten Sie also beide nichts?

Wagenknecht: Ich würde Erbschaften sehr stark abschöpfen, ja. Oberhalb von einer Million Euro plädiere ich persönlich für 100 Prozent Steuerlast. Wer eine Million erbt, hat einen riesigen Startvorteil. Das reicht. Jeder sollte für seinen Wohlstand selbst verantwortlich sein und sich nicht darauf ausruhen können, was die Väter oder Großväter einst aufgebaut haben. Armut ist mittlerweile erblich – genauso wie Reichtum. Das zementiert Ungleichheit.

Was passiert im Erbfall mit Betriebsvermögen?

Wagenknecht: Eigenkapital oberhalb von einer Million Euro wechselt in Belegschaftshand. Jedes Unternehmen lebt von der Idee des Gründers und von der Leistung seiner Mitarbeiter. Wenn der Gründer wegfällt, gehört es legitimerweise den Beschäftigten.

Schroeder: Ich bin sprachlos. Das ist schleichende Enteignung! Wenn das eingeführt würde, würden die Leute mit ihren Vermögen ganz anders umgehen. Dann müssten Sie schon sehr strikt kontrollieren, dass es nicht zu Ausweichreaktionen kommt. Die Motivation vieler Unternehmer ist doch gerade die Versorgung der Familie. Also: Ich würde durchaus dazu neigen, die Erbschaftsteuer leicht anzuheben. Aber das darf gewiss keine Arbeitsplätze gefährden.

Steuerklassen und Freibeträge für Erben und Beschenkte

Wagenknecht: Der urliberale Anspruch war: Eigentum entsteht durch Arbeit. Ist das Eigentum eines Erben durch eigene Arbeit entstanden? Offensichtlich nicht. Die Erben können, wie jeder andere auch, mit einer guten Idee ein neues Unternehmen gründen oder als Gesellschafter im Unternehmen der Eltern arbeiten. Was jemand wird, sollte von seiner Begabung abhängen und nicht davon, ob er zum Club der glücklichen Spermien gehört.

Schroeder: Entschuldigung, aber: Eigentumsrechte sind das Erfolgsgeheimnis der sozialen Marktwirtschaft. Sie müssen unbedingt gewährleistet sein. Genau diese soziale Marktwirtschaft ist es ja auch, die mit ihrer Umverteilung die Ungleichheit senkt. Warum sollten wir die Axt an die Grund­lagen von Freiheit und Wohlstand legen?

Wagenknecht: Finden Sie?

Schroeder: Die nackte Ungleichheit des Marktes wird vom Sozialstaat um fast die Hälfte reduziert. Das sind seriöse Berechnungen, da kenne ich niemanden, der das negiert.

Ist das die Schnittmenge zwischen Ihnen: Arbeit muss sich lohnen, Erbschaften dürften höher besteuert werden, zahlen sollen die obersten ein, zwei Prozent?

Wagenknecht: Die Umverteilung muss zulasten der oberen ein Prozent gehen. Die Mittelschicht schrumpft ja gerade infolge der aktuellen Politik. In den vergangenen zehn Jahren sind fünf Millionen Menschen aus ihr abgestiegen. Ein solches Land steht nicht gut da.

Schroeder: Die Studie, auf die Sie anspielen, wurde längst korrigiert. Die Mittelschicht hat sich nicht verringert. Sie liegt seit Jahrzehnten relativ konstant bei 50 bis 60 Prozent.

Wagenknecht: Sie können doch nicht leugnen, dass der Durchschnittslohn heute unter dem Level der Jahrtausendwende liegt. Wir haben immer mehr prekäre Jobs. Viele, die früher ein normales Arbeitsverhältnis hatten, verdienen heute als Leiharbeiter oder Werkverträgler gerade noch die Hälfte. Und selbst wenn das Einkommen noch stimmt, sind immer mehr Jobs befristet. Auch das ist ein Einbruch an Lebensqualität. Zugleich gibt es eine unglaubliche Konzentration des Reichtums bei ganz wenigen. Die herrschende Politik ist vorteilhaft für die Banken und die großen Unternehmen – und eben nicht für die Mitte.

Fehlende soziale Mobilität

Wie die Armut in Deutschland aussieht
Der Graben zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden. Auf die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte entfielen 53 Prozent (Stand: 2008, neuere Zahlen liegen nicht vor) des gesamten Nettovermögens. 1998 lag die Quote bei 45 Prozent. Die untere Hälfte der Haushalte besaß zuletzt lediglich gut ein Prozent des Nettovermögens. 2003 waren es drei Prozent. Von 2007 bis 2012 hat sich das Gesamtvermögen der Haushalte trotz der Finanzkrise um weitere 1,4 Billionen Euro erhöht. Quelle: dapd
Fast jeder vierte Beschäftigte arbeitet in Deutschland für einen Niedriglohn von weniger als 9,54 Euro pro Stunde. Ihr Anteil an allen Beschäftigten war im Jahr 2010 mit 24,1 Prozent so groß wie in kaum einem anderen Staat der Europäischen Union (EU). Selbst in Zypern oder Bulgarien gibt es weniger Niedriglöhner. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Unter den 7,1 Millionen Beziehern von Niedriglöhnen hierzulande sind Geringqualifierte fast die Ausnahme: Mehr als 80 Prozent der Geringverdiener in Deutschland hätten eine abgeschlossene Berufsausbildung. Besonders hoch sei der Anteil der Niedriglöhner bei Frauen und Teilzeitbeschäftigten. Quelle: dpa
Der Staat ist ärmer geworden. Sein Nettovermögen schrumpfte zwischen Anfang 1992 und Anfang 2012 um über 800 Milliarden Euro, während es sich bei den privaten Haushalten um gut fünf Billionen Euro mehr als verdoppelte. Zu dieser Entwicklung trug die Privatisierungspolitik aller Regierungen in diesem Zeitraum bei. Die Erlöse aus dem Verkauf öffentlichen Tafelsilbers versickerten in den Haushalten. Quelle: dapd
Die „Armutsgefährdungsschwelle“ liegt nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes bei 952 Euro im Monat. Je nach Datengrundlage gilt dies für 14 bis 16 Prozent der Bevölkerung. Hauptgrund für Armut ist Arbeitslosigkeit. Auch für Alleinerziehende ist das Risiko hoch. Quelle: dpa
Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor stieg und lag zuletzt zwischen 21 und 24 Prozent. Im Jahr 2010 waren 7,9 Millionen Arbeitnehmer betroffen. Die Niedriglohngrenze liegt bei 9,15 Euro pro Stunde. Quelle: dpa
Nur 2,6 Prozent der über 65-Jährigen sind derzeit auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Quelle: dpa
Die Arbeitslosigkeit sank im Berichtszeitraum auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen reduzierte sich zwischen 2007 und 2012 von 1,73 Millionen auf 1,03 Millionen oder um mehr als 40 Prozent. In der EU weist Deutschland aktuell die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit aus - begünstigt von der Hartz-IV-Gesetzgebung: Seit 2005 müssen Langzeitarbeitslose auch schlecht bezahlte Jobs annehmen. Die Ausweitung von Niedriglohnsektor und atypischer Beschäftigung (Zeitarbeit, Teilzeitarbeit, Minijobs) ging laut Bericht nicht zulasten von Normalarbeitsverhältnissen. Quelle: dapd

Sie halten das Werben der politischen Konkurrenz um die „Mitte“ also für ­Etikettenschwindel?

Wagenknecht: Komplett.

Schroeder: Aber Sie wollen doch auch schon Einkommen von mehr als 72.000 Euro jährlich stärker belasten. Das ist der falsche Weg, die Mitte müsste wirklich entlastet werden. Denn sie ist es, die den ganzen Laden am Laufen hält.

Wagenknecht: Erhebliche Mehrbelastungen gäbe es bei unserem Steuerkonzept erst bei weit höheren Einkommen. Und was noch wichtiger ist: Die Abgeltungsteuer mit einem pauschalen Steuersatz von 25 Prozent ist ein Skandal: Menschen, die von ihrem Vermögen leben, werden privilegiert gegenüber Menschen, die arbeiten. Das wollen wir ändern.

Schroeder:Wieso wollen Sie überhaupt mehr Geld? Was soll daran gerecht sein, dass der Staat mehr und mehr einnimmt – und den Bürgern mehr und mehr wegnimmt? Ich finde, mit Verlaub, Sie fantasieren sich ein ungerechtes, ungleiches Deutschland zurecht. Sie sehen nur Opfer.

Die Einkommensungleichheit ist seit 2005 gesunken. Die OECD kürte die ­Bundesrepublik und Österreich gerade zu den einzigen beiden Ländern, die seit 2007 die soziale Spaltung verringern konnten. Das sind die Fakten.

Wagenknecht: Diese Fakten werden von vielen Ökonomen angezweifelt. Nach den Vermögensstatistiken sind die Millionärsvermögen seit Jahren deutlich angestiegen, die der Mittelschicht hingegen stagnieren. Das ist für mich ein Indikator wachsender Ungleichheit. Auch der Niedriglohnsektor wächst.

Schroeder: Gerechtigkeit bemisst sich nicht an der Zahl der Millionäre. Und Ungleichheit ist nicht per se problematisch. Eine Gesellschaft, die Wohlstand ermöglichen will, muss Anreize bieten und Durchlässigkeit schaffen. Daran hapert es. Es muss wieder mehr Aufstiegskanäle geben.

Ist das nicht der eigentliche Skandal: Der Sozialstaat wird zwar immer voluminöser, aber die soziale Mobilität hat sich eher verschlechtert?

Schroeder: Absolut. Der Staat muss jedem Aufstiegschancen geben. Der Leistungs- und Wettbewerbsgedanke sollte wieder ­eine viel größere Rolle spielen – übrigens auch in den Familien.

Wagenknecht: Sinkende Mobilität ist in der Regel die Folge wachsender Ungleichheit. Sehen Sie sich die zunehmende Ghetto­isierung der Wohngebiete an. In einigen ist die obere Mittelklasse unter sich, andere werden zu sozialen Brennpunkten mit schlechter Infrastruktur, schlechten Schulen. Am Ende kann eine Adresse schon stigmatisieren. Diese Rückkopplungen ­finde ich höchst gefährlich.

Wo Steuergelder verschwendet werden
Bunte Möhren für 230.000 Euro Quelle: dpa
Computer-Monitore für 150.000 Euro Quelle: dpa
Parkplätze für 20 Millionen Euro Quelle: dpa
2,5 Millionen Euro für eine viel zu frühe Sanierung Quelle: AP
Fehleinschätzung kostet mehrere Millionen Quelle: ZB
Das Doppelte für eine Schulmensa Quelle: dapd
Eine Millionen Euro für leerstehende Wohnungen Quelle: dpa

Kann mehr Geld das Problem denn lösen? Oder andersherum: Auf was könnte man verzichten?

Schroeder: Viele Sozialleistungen und Subventionen sollte man sich kritisch ansehen und die frei werdenden Mittel in Richtung Bildung umlenken. Bessere Schwerpunktsetzung ist dringend geboten.

Wagenknecht: Die Milliarden, um magere Löhne aufzustocken, sind verschleudertes Geld. Das könnte sich der Staat mit einem Mindestlohn sparen. Auch viele sogenannte Maßnahmen für Langzeitarbeits­lose sind nutzlos. Da wird fast niemand ernsthaft qualifiziert. Aber bei Hartz IV selbst kann man nicht kürzen – schon heute sind die Regelsätze unerträglich niedrig, besonders für Kinder. Wenn Schüler auf Klassenfahrten verzichten müssen oder die Nachhilfe nicht bezahlt bekommen, dann untergräbt genau das die Chancengleichheit.

Schroeder: Die Hartz-Reformen, die mein Namensvetter mit ö damals eingeführt hat, standen unter der Überschrift „Fordern und fördern“. Sie betonen immer nur das Fördern. Ich bin der Meinung: Man muss auch fordern. Von Eltern kann man verlangen, dass sie sich um ihre Kinder kümmern, und von Erwachsenen, dass sie sich um sich selber kümmern. Es geht um individuelle Leistung und individuelle Verantwortung. Aber um das Fördern nicht ganz zu vergessen: Der Staat sollte Kita-Plätze kostenlos anbieten.

Wagenknecht: Da bin ich ganz bei Ihnen. Aber genau dafür braucht er Geld.

Die Pflicht für das Gemeinswesen

Sahra Wagenknecht im Streitgespräch mit Klaus Schroeder Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Wie wäre es denn mit einer staatlichen Kita-Pflicht?

Schroeder: Bitte nicht!

Wagenknecht: Zumindest für das Vorschuljahr: ja!

Schroeder: Zwang verträgt sich nicht mit einer freiheitlichen Gesellschaft.

Wagenknecht: Schulzwang gibt es auch.

Schroeder: Arbeitszwang nicht! Aber das Wichtigste ist, dass man das Selbstverantwortungsgefühl in die Familien trägt. Die meisten Mittelstandsfamilien bemühen sich sehr intensiv um Anregungen für ihren Nachwuchs. Diese Einstellung hat wenig mit Geld und viel mit Bildungshunger und Aufstiegswillen zu tun. Darüber hinaus glaube ich nicht, dass die Ausstattung einer Schule in Berlin-Neukölln schlechter ist als die einer in Zehlendorf.

Konsens also bei Chancengerechtigkeit. Bleibt nur noch die Frage, Frau Wagenknecht, warum Sie schon an das Geld von Leistungsträgern wollen, um Staat für die Schwachen zu machen?

Wagenknecht: Wer sind die Leistungsträger? Für mich leistet eine Altenpflegerin oder eine Krankenschwester trotz schlechter Löhne weit mehr als ein Millionärserbe oder ein Investmentbanker. Auch jemand, der 7000 oder 8000 Euro im Monat verdient, ist nicht reich, er gehört zur Mittelklasse. Unsere Vermögensteuer soll erst ab einer Million Euro greifen, darunter nicht. Klar kann jemand mit 10.000 oder 15.000 Euro Monatsgehalt eine Mehrbelastung schultern. Aber richtig Geld wollen wir woanders holen. Wer so tut, als wolle die Linke der Mittelschicht die Taschen lehren, liegt falsch. Dazu braucht es auch die Linke nicht, das machen schon die anderen.

Wie gerecht ist Deutschland?

Schroeder: Das hätte ich nun nicht erwartet… Aber Sie wissen ja selbst, was im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung als reich deklariert wird: 3250 Euro Nettoeinkommen. Es ist absurd, das als reich zu bezeichnen. Reichensteuer aufgrund von 250.000 Euro Jahreseinkommen zahlen 0,2 Prozent der Haushalte. Das sind also nicht viele. Wichtig ist, dass die illegalen Fluchtstrategien unterbunden werden. Sonst sind alle Pläne, auch für punktuelle Mehrbelastungen, null und nichtig.

Wagenknecht: Dem stimme ich zu. Die USA machen es vor: Finanzinstitute werden verpflichtet, Kontobewegungen ins Ausland zu melden. Ich finde, niemand darf sich seiner Pflicht für das Gemeinwesen entziehen.

Schroeder: Von den USA lernen heißt siegen lernen. Das ist gut. Können wir uns darauf einigen?

Wagenknecht: Da wäre ich vorsichtig. Ich lebte schon einmal in einem Staat, der von einem anderen siegen lernen wollte. Wir wissen heute, was daraus geworden ist.

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