WirtschaftsWoche: Frau Wagenknecht, Herr Schroeder, stellen Sie sich vor, Sie seien Lehrer und müssten Deutschland ein Zeugnis ausstellen: Welche Note geben Sie für die Leistung in „sozialer Gerechtigkeit“?
Schroeder: Ich kann mit dem Begriff ziemlich wenig anfangen. Er ist interessengeleitet, ein politisch-ideologischer Kampfbegriff. Niemand weiß, was sozial gerecht ist – Frau Wagenknecht nicht, ich nicht, niemand. Wahrscheinlich deshalb, weil niemand „soziale Gerechtigkeit“ zu definieren versteht, hat der Begriff so eine erstaunliche Karriere hingelegt. Deshalb kann ich nur meinen eigenen Standpunkt wiedergeben, und der ist relativ. Ich würde Deutschland – verglichen mit anderen Ländern – eine glatte zwei geben.
Zu den Personen
Wagenknecht, 43,gehört zu den prominentesten und profiliertesten Köpfen der Linkspartei. Von 2004 bis 2009 saß die gebürtige Jenaerin im Europaparlament. Seit 2009 ist die studierte Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Abgeordnete im Bundestag.
Schroeder, 63, lehrt und forscht als Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Die Geschichte der DDR und der Wiedervereinigung ist sein Spezialgebiet. Immer wieder mischt er sich in die Debatten über den Sozialstaat und zu Fragen der Gerechtigkeit ein.
Wagenknecht: Für mich hat Deutschland eine fünf verdient. Natürlich gibt es Länder mit größeren Kontrasten und viel schlimmerer Armut. Aber man muss Deutschland an seinen eigenen Möglichkeiten messen. Nach diesem Maßstab ist das Einkommen sehr ungerecht verteilt. „Soziale Gerechtigkeit“ ist keine Leerformel. Wenn Menschen von ihrem Einkommen nicht mehr leben können, dann ist das nicht nur ungerecht, es ist ein Skandal. Andere hingegen leben in ihrem ererbten Vermögen im größten Luxus, ohne je arbeiten zu müssen. Wieder andere schaden als Finanzjongleure der Allgemeinheit und tragen trotzdem Millionen nach Hause.
Schroeder: Mein Maßstab ist natürlich nicht Vietnam oder China. Ich orientiere mich an unseren europäischen Nachbarn. Da rangiert Deutschland im oberen Drittel, hinter den skandinavischen Ländern. Dieses Land hat Veränderungen gemeistert, die beispiellos waren: die deutsche Einheit, die millionenfache Zuwanderung, den sozialstrukturellen Wandel. Wenn ich das berücksichtige, dann geht es hierzulande im Großen und Ganzen sozial gerecht zu. Ein Problem sehe ich wie Frau Wagenknecht überall da, wo sich Leistung von Entlohnung entkoppelt. Die Leute empfinden allerdings nicht nur Bankerboni und hohe Managergehälter als ungerecht, sondern auch, dass jemand, der nichts tut, fast so viel Geld erhält wie jemand, der täglich arbeiten geht.
Ist Hartz IV demnach zu hoch, oder sind die Löhne zu niedrig?
Wagenknecht: Die Löhne sind zu niedrig. Ein Mindestlohn von zehn Euro ist überfällig.
Schroeder: Aber den Hartz-IV-Satz will die Linke doch auch erhöhen.
Wagenknecht: Wer arbeiten möchte und keinen Job findet, den kann man nicht auch noch bestrafen! Die meisten Arbeitslosen sind nicht freiwillig zu Hause, sondern weil die Gesellschaft ihnen keine Chance gibt.
Viele Normalarbeitnehmer finden, die Politik müsste endlich ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken – und nicht immer nur den Hartz-IV-Empfängern.
Wagenknecht: Ohne Hartz IV hätten sich auch die Löhne nicht so miserabel entwickelt. Richtig ist: Die Agenda 2010 war ein massiver Angriff auf den Wohlstand normaler Arbeitnehmer. Viele wurden in Werkverträge und Leiharbeit abgedrängt. Beim Medianvermögen befindet sich Deutschland heute am unteren Ende der Euro-Zone.
Schroeder: Aber Sie wissen doch, woran das liegt: Die Bedeutung von Immobilienbesitz ist geringer. Vor allem aber werden die üppigen gesetzlichen Rentenansprüche – anders als die privaten – nicht angerechnet, obwohl sie ein riesiges Vermögen darstellen. Wenn Sie beides berücksichtigen, sieht die Lage schon ganz anders aus.
Wagenknecht: Wer sich heute von Befristung zu Befristung hangelt, hat weder die Möglichkeit noch die Sicherheit, sich jemals ein Häuschen zu kaufen. Und für die üppigen Rentenansprüche können sich viele Arbeitnehmer, denen ein Alter auf Hartz-IV-Niveau droht, wirklich bedanken.