Strommarkt Vor riskanten Experimenten am offenen Herzen des Strommarktes kann man nur warnen

Angesichts der rasant steigenden Strompreise erwägen die EU-Kommission und die Bundesregierung, den Strommarkt zu reformieren. Die hohen Gewinne der Stromproduzenten sollen abgeschöpft und die Stromverbraucher mit dem Geld finanziell entlastet werden. Quelle: imago images

Die Politik scheint entschlossen, in die Gestaltung des Stromgroßhandelsmarktes einzugreifen, um Krisengewinne und -belastungen umzuverteilen. Einige Vorschläge in diese Richtung würden die Probleme jedoch verschärfen. Was kann die Politik tun?

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Durch die hohen Gaspreise können Kohlekraftwerke, Kernkraftwerke und erneuerbare Energien, die kein Erdgas verwenden, sehr hohe Gewinne machen. Der Grund ist, dass die Gaskraftwerke den Preis für den gesamten Markt bestimmen, wenn sie für die Versorgung benötigt werden. Dieser Mechanismus ist nicht das Ergebnis eines fehlerhaften europäischen Strommarktdesigns, sondern Folge von transparentem Handel in wettbewerblichen Märkten.

Dies folgt aus zwei fundamentalen Prinzipien des Wettbewerbs: Erstens produziert kein Kraftwerk Strom zu einem Preis, der unter den variablen Kosten liegt, weil es sonst Verluste machen würde. Wettbewerb führt dazu, dass zu jedem Zeitpunkt nur die günstigsten Kraftwerke produzieren, und unter diesen günstigsten Kraftwerken muss der Preis folglich auch die variablen Kosten des teuersten Kraftwerks decken. Zweitens gilt, dass es in einem transparenten, wettbewerblichen Markt für ein homogenes Produkt (wie Strom) nur einen einzigen Marktpreis geben kann.

Bei zwei oder mehr Preisen gäbe es Arbitragemöglichkeiten: Ein Händler könnte so lange billig kaufen und teuer weiterverkaufen, bis die Preise angeglichen sind (law of one price). Aus diesen beiden Prinzipien folgt, dass in einem Markt die stromproduzierenden Kraftwerke mit den höchsten variablen Kosten den Marktpreis bestimmen.

Axel Ockenfels

Manche Vorschläge zur Änderung des Strommarktdesigns laufen daher ins Leere oder sind gar kontraproduktiv. So könnte eine staatlich verordnete Preisobergrenze an den Strombörsen dazu führen, dass die Nachfrage steigt, das Stromangebot weiter sinkt und Anbieter zu weniger effizienten Handelsplattformen flüchten. Dies würde das zugrundeliegende Knappheitsproblem weiter verschärfen.

Dennoch gibt es Gründe darüber nachzudenken, wie „Zufallsgewinne“ oder „Windfall-Profits“ infolge des massiven Gaspreisanstiegs ausnahmsweise und zeitlich begrenzt umverteilt werden können. Unter normalen Umständen sind Windfall-Profits zwar dringend notwendig, um Investitionskosten zu decken und um Anreize für neue Investitionen zu geben. Allerdings spielt im europäischen Kontext nicht der Markt, sondern die Politik die zentrale Rolle für Markteintritt und -austritt bei Kohle, Kernkraft und teils auch bei erneuerbaren Energien.

Vor allem erreichen aber die Strompreise in dieser Krise Größenordnungen, die sie zur unerträglichen Belastung für viele Stromverbraucher werden lassen. Welche Maßnahmen versprechen Entlastung? Kann die Neugestaltung der Regeln im Stromgroßhandel dabei helfen? 

Neue Regeln für den Stromgroßhandel

Ein Vorschlag Griechenlands ist, den Markt in zwei Segmente aufzuteilen, eines für die Erzeugung mit geringen variablen Kosten (etwa Wind) und eines für die teure Erzeugung (etwa Gas). Dies würde für sich genommen jedoch nicht viel ändern, da die kostengünstigen Produzenten in ihrem Segment denselben Marktpreis wie in einem einzigen Markt durchsetzen könnten. Der Grund ist, dass alle verfügbaren Kraftwerke im günstigen Segment laufen, wann immer das teure Segment benötigt wird. Das günstige Segment produziert also an seiner Kapazitätsgrenze, sodass der Marktpreis in diesem Segment bei Wettbewerb nicht durch die variablen Kosten, sondern durch die Nachfrage determiniert wird – und im Ergebnis dem Marktpreis im teuren Segment entspricht.

Daher wird in dem griechischen Modell zusätzlich vorgeschlagen, dass die kostengünstigen Erzeuger kostenbasiert und nicht marktgerecht entlohnt werden – was letztlich auf die Auflösung großer Teile des Strommarktes hinauslaufen würde. 

Um das zu vermeiden, hat zum Beispiel Sebastian Kranz von der Universität Ulm vorgeschlagen, den für die kostengünstige Stromerzeugung gezahlten Preis zu begrenzen, sodass die Vorteile des Marktes zumindest teilweise greifen können. Doch auch dieser Vorschlag verzerrt den Preismechanismus. Beispielsweise würde die Nachfrageseite durch die Preiskappung ineffizient viel Strom nachfragen, und Stromanbieter wären versucht, andere Verkaufskanäle zu finden, was dann weitere Interventionen nach sich ziehen müsste.

Eine alternative Handlungsoption ist, alle Einnahmen aus der Nicht-Gas-Stromerzeugung zu besteuern, und zwar nur in den Zeiten, in denen Gaskraftwerke benötigt werden und Strom liefern. Die Steuer darf dabei den Nettopreis nicht unter die variablen Kosten der Produktion drücken, damit die Produktion der Nicht-Gas-Kraftwerke nicht gestoppt wird. Da die Steuer nur dann erhoben wird, wenn Gaskraftwerke Strom liefern, kann die Steuer die durch den hohen Gaspreis induzierten hohen Erlöse – die „inframarginalen Renten“ – aller anderen stromproduzierenden Kraftwerke effektiv abschöpfen. Dies kann unabhängig davon geschehen, welche Verträge der jeweiligen Stromproduktion zugrunde liegen und wo der Handel stattfindet.

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Gleichzeitig bleiben der Marktmechanismus und alle Anreize, Strom anzubieten und den Gasverbrauch zu senken, voll erhalten: Weil die preisbestimmenden Gaskraftwerke nicht besteuert werden, wird der Marktpreis nicht beeinträchtigt. Dennoch kommt es zu Steuereinnahmen, die in einer Weise zur Entlastung der Stromverbraucher verwendet werden sollten, die den Marktmechanismus nicht verzerren. 

Was die EU und die Bundesregierung wollen 

Die Europäische Kommission scheint derzeit einen ähnlichen Ansatz zu präferieren: In dem am 1. September 2022 publik gemachten „Non-paper on Emergency Electricity Market Interventions“ wird ein Preiscap auf inframarginal produzierten Strom im Spotmarkt vorgeschlagen. Der Vorschlag entspricht konzeptionell und vom Ergebnis her weitgehend dem oben beschriebenen Mechanismus. Tatsächlich handelt es sich nicht um einen Preiscap im Sinne einer Begrenzung des von der Nachfrage bezahlten Strompreises. Vielmehr sollen die Erlöse, die bei einem Preis über dem Cap entstehen, im Nachgang zum Spotmarkt „wegbesteuert“ werden.

Die Bundesregierung hat sich am 3. September 2022 in einem Maßnahmenpaket ebenfalls für eine Begrenzung von „Zufallsgewinnen“ ausgesprochen. Dabei soll analog zu den genannten Vorschlägen eine „Erlösobergrenze für Anlagen der Stromerzeugung mit geringer Kostenbasis“ festgelegt werden und der „Differenzbetrag zwischen Großhandelspreis und Erlösobergrenze“ abgeführt werden.  

Falls Gewinne und Belastungen mit Hilfe des Stromgroßhandels umverteilt werden sollen, spricht viel dafür, eine Variante des vorgestellten Vorschlags in den Blick zu nehmen. Ob aber das Strommarktdesign überhaupt die richtige Stellschraube ist, hängt davon ab, ob die damit verbundenen Herausforderungen zufriedenstellend gelöst werden können, die sich bei der Implementierung ergeben. Das ist noch unklar.

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