Szenarien für russischen Gasstopp Mehr Kohle und nochmal Atomkraft?

Unabhängigkeit von russischem Gas auf Kosten des Klimaschutzes? Quelle: dpa

Energieexperten umreißen, was ohne russisches Gas passiert. Privatleute könnten das Stromnetz überfordern, die Industrie Produktion ins Ausland verlagern. Deshalb raten die Fachleute vorzubeugen – auch auf Kosten des Klimaschutzes.

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Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wendet sich in diesen Tagen an die Menschen und bittet, überall im Alltag Energie zu sparen. Beim Lüften, beim Duschen, beim Pendeln zur Arbeit. Wissenschaftler wie der Stuttgarter Maschinenbauprofessor Kai Hufendiek, die sich mit der Energieversorgung beschäftigen, überlegen zeitgleich, was passiert, wenn russisches Gas gekappt wird, bevor Deutschland einigermaßen unabhängig von den Lieferungen ist.

Hufendiek vom Institut für Energiewirtschaft der Uni Stuttgart (IER) arbeitet mit Expertinnen und Experten mehrerer anderer Institute von der Bundesregierung geförderten Kopernikus-Energiewende-Projekte daran, solche Was-Wäre-Wenn-Szenarien zu umreißen. Ihre zusammengefasste Botschaft zu den Folgen eines Gasstopps aus Russland ist nicht rosig. Erstens wird manches, was technisch möglich ist, in einer solchen Krise praktisch nicht funktionieren. Entweder fehlen Flüssiggasterminals oder reagieren Privatverbraucher zum Beispiel anders als fürs Gesamtsystem sinnvoll wäre.

Zweitens gibt es Signale, dass Teile der Industrieproduktion verlagert werden könnten, die Deutschland dann dauerhaft fehlen dürften. Drittens sollte die Regierung deshalb lieber jetzt vorbeugen und Gasspeicher schneller füllen – etwa indem mehr Kohle- und Atomstrom erzeugt wird, statt Gas zur Energieerzeugung zu verfeuern.

„Gas kann nicht mal für eine Stunde abgeschaltet werden“

Die Task Force „Kurzfristige Versorgungssicherheit“ der Forschungsinstitute muss ebenso wie die Regierung mit einigen Unbekannten arbeiten. Ein solcher Einbruch bei der Versorgung ist noch nicht vorgekommen und auch das Verhalten von Privatleuten, die im Haushalt mit Gas heizen, ist schwer vorhersagbar. Das liegt vor allem daran, dass sich schon jetzt sehr stark steigende Gaspreise oft erst Monate oder gar ein Jahr später bei Hausbesitzerinnen oder Mietern als Kosten niederschlagen.

Hufendiek beschreibt die Schätzungen der Task Force zu den Privathaushalten so: „Im Unterschied zum Strom kann Gas nicht mal für eine Stunde abgeschaltet werden, um im Ernstfall zu sparen.“ Es sei auch nicht sicher, wie stark Verbraucher auf steigende Gaspreise reagierten: „Hausbesitzer und Mieter merken das erst Monate später, wenn die Rechnung oder die Nebenkostenabrechnung kommt.“ Immerhin sei die Faustformel beim Heizen recht einprägsam, dass bei einer zwei Grad niedrigeren Raumtemperatur etwa zehn Prozent weniger Gas verfeuert werde. Nicht hilfreich sei allerdings, weiß Hufendiek, wenn Verbraucher sich zur Sicherheit reihenweise Heizlüfter anschafften.  „Das würde das Stromnetz dann überlasten.“

Autozulieferer, Gießereien, Glasindustrie: Produktionskosten explodieren

Die Fachleute haben auch die Reaktion der Industrie betrachtet, die Gas als Energieträger, aber auch als Rohstoff einsetzt. „Es besteht ein hohes Risiko für massive Störungen der Wertschöpfungskette“, so das Fazit, sollte Gas aus Russland ausbleiben. Im günstigsten Fall, im Sommer, fehlten dann zwanzig Prozent des Gases. Umgekehrt gilt: Je kühler es wird, desto höher ist der Heizbedarf und damit an Gas.

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Die Preise für die Industrie stiegen drastisch, wenn Gas wegbleibe und sich der Rohstoff deutlich verteuere, berichtet die Task Force. Befragungen von Autozulieferern, Alu- und Glasindustrie, Gießereien, der chemischen und Papierindustrie zeigten, dass die Unternehmen mit um 20 bis 125 Prozent höheren Produktionskosten rechneten und mit sogar um 30 bis 250 Prozent höheren Energiekosten.

Nicht alle könnten die höheren Kosten weitergeben, weil sie mit Lieferanten im Ausland konkurrierten, so das Fazit. Bei der Produktion von Ammoniak etwa, einem wichtigen Grundstoff in der Chemieindustrie und Bestandteil von Dünger, sei Erdgas kaum ersetzbar, in den USA aber nur halb so teuer.

Gasreport zeigt: Die Industrie reagiert bereits

Hufendiek nennt einen ersten Hinweis, dass Unternehmen bereits Produktion umbauten: Im Gasreport der Bundesnetzagentur werde für die ersten vier Monate 2022 ein Rückgang des Verbrauchs um 15 Prozent unter Vorjahr ausgewiesen. „Das deutet auf eine Reaktion der Industrie hin, die verlagert oder substituiert.“ Das Wetter oder sonstige Einflüsse könnten den Unterschied nicht erklären. „Es könnten ganze Wertschöpfungsketten abbrechen“, wenn in die USA oder nach Fernost verlagert werde. „Fürs Klima ist nichts gewonnen, wenn die Stoffe dauerhaft mit Kohle in China produziert werden.“     

Privatleute als geschützte, aber auch schwer durchschaubare Marktteilnehmer auf der einen Seite und die vom verlässlich wie preisgünstig gelieferten Gas abhängige Industrie auf der anderen Seite. Beides lässt die Expertinnen von der Task Force zum Schluss kommen, dass die Regierung schon jetzt, vor einer möglichen Kappung des Gases aus Russland, handeln muss. „Die Politik sollte jetzt was tun, damit sich die Gasspeicher rascher füllen.

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Dazu gehöre, so der Stuttgarter Professor, weniger Gaskraftwerke laufen zu lassen und etwa Kohlemeiler dafür länger zu nutzen. Kraftwerke, die bald nur noch als Reserve vorgesehen seien, könnten länger laufen. „Technisch ist auch möglich und in der jetzigen Situation wahrscheinlich sinnvoll, länger auf die verbliebenen Atomkraftwerke zu setzen.“  Die Kosten für einen solchen Weiterbetrieb der Kernmeiler habe die Gruppe allerdings nicht berechnet. Auch müssten schnell die geplanten Flüssiggas-Terminals in Betrieb gehen. Doch das ist erst im Winter zu erwarten.

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