Taliban-Prozess Angeklagter wird freigesprochen

Die Bundesanwaltschaft erlebt in Koblenz eine Niederlage. Sie hat einem vermeintlichen Taliban-Kämpfer Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Der ist anfangs sogar geständig. Doch dem Gericht bleiben zu viele Zweifel.

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Der Angeklagte wird freigesprochen. Am Ende bleiben dem Gericht zu viele Zweifel. Quelle: dpa - picture-alliance

Koblenz Zum letzten Mal Handschellen. Ein Justizwachtmeister öffnet sie dem Afghanen im Oberlandesgericht Koblenz. Seit fast einem Jahr sitzt der junge Mann in Untersuchungshaft, am Freitag verkündet der Vorsitzende Richter Lothar Mille das Urteil: „Der Angeklagte wird freigesprochen.“ Der abgelehnte Asylbewerber zeigt kaum eine Regung. Sein Anwalt Daniel Sprafke legt einen Arm um ihn. Der Zuschauerraum ist fast leer; die Angehörigen des jungen Mannes leben Tausende Kilometer weit weg in der Heimat.

Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft lautete auf Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und Beihilfe zum Mord. Der Angeklagte sei in Afghanistan als Leibwächter eines regionalen Taliban-Befehlshabers bei mindestens 50 Hinrichtungen dabei gewesen und habe mit seiner Kalaschnikow auch den Henker beschützt. Einmal soll ein von den Taliban zum Tode verurteilter Soldat nachts verschleppt worden sein. Weil er sich nicht habe freikaufen können, sei er mit einem Kopfschuss getötet worden.

Nach langer Flucht durch zahlreiche Länder landete der Afghane schließlich in Deutschland – in Prüm in der Eifel. Doch im Januar klicken die Handschellen. Der Mann gesteht und kommt in Untersuchungshaft. Anfang Juli beginnt der Prozess, im September dann die Überraschung: Der abgelehnte Asylbewerber widerruft sein früheres Geständnis.

Auf Anraten eines Bekannten in Deutschland habe er das Geständnis frei erfunden, um als angeblicher Taliban-Deserteur leichter Asyl zu erhalten. Er wolle von Deutschland aus die Armut seiner Familie lindern. Sein angeblicher ehemaliger Chef in Afghanistan, der Cousin seines Vaters, habe gar nicht für die Taliban gearbeitet.

Verbrecher oder Lügenbaron – welche Version stimmt? Bodo Vogler, der Vertreter der Bundesanwaltschaft, geht in seinem Plädoyer weiterhin von dem angeblichen Geständnis aus, hält also an seinen Vorwürfen fest. Der Oberstaatsanwalt fordert eine Jugendhaftstrafe von vier Jahren. Verteidiger Sprafke plädiert auf Freispruch.

Am Freitag urteilt das deutsche Gericht nach deutschem Recht über vermeintliche Verbrechen eines Afghanen im Bürgerkrieg im fernen Afghanistan. Der Vorsitzende Richter spricht von „stellvertretender Rechtspflege“. Quintessenz seiner Urteilsbegründung: „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Der junge Mann stamme aus einem Kulturkreis, „der uns fremd ist“.

Viele Punkte der Anklage und des früheren Geständnisses vor der Polizei ließen sich nicht überprüfen. Dem Staatsschutzsenat seien „unüberwindbare Zweifel“ geblieben. Offizielle Angaben von afghanischen Behörden sind laut Mille schwer zu beschaffen. Der Senat habe daher den Bundesnachrichtendienst eingeschaltet. Doch dieser habe keine Erkenntnisse zu dem vermeintlichen Taliban-Chef. Es sei nicht auszuschließen, dass das frühere Geständnis falsch gewesen sei.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Oberstaatsanwalt Vogler will prüfen, „ob wir Revision einlegen“. Der junge Afghane, dessen genaues Alter noch immer ungeklärt ist, sagt der Deutschen Presse-Agentur zu seinem Freispruch: „Das ist eine große Überraschung. Ich habe die ganze Zeit Sorgen um meine Familie gehabt. Meine Mutter ist schwer krank.“ Sein Anwalt Sprafke spricht von einem unglaublichen Erfolg: „Es ist ein richtiges Urteil, ein sehr weises Urteil.“

Entschädigung für die lange Untersuchungshaft bekommt sein Mandant nicht – wegen seines „grob fahrlässigen“ falschen Geständnisses. Über sein weiteres Schicksal befindet das Verwaltungsgericht Trier: Dort klagt er gegen die Ablehnung seines Asylbescheids. Immerhin droht ihm als nicht verurteiltem Mann wohl keine unmittelbare Abschiebung.

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