
Es war ein Auftritt so ganz nach dem Geschmack von Claus Weselsky. Schon morgens früh um sieben Uhr gab der Chef der Lokführergewerkschaft GDL den Kümmerer und mischte sich am Leipziger Hauptbahnhof unter demonstrierende Kollegen. Nachdem GDL-Warnstreiks Mitte März bereits einen Vormittag lang die Deutsche Bahn lahmgelegt hatten, nahm die Weselsky-Truppe in der vergangenen Woche mehrfach die privaten Schienenbetriebe ins Visier. Fast drei Viertel der Züge fielen aus – und die rauflustige GDL, die zwischen 70 und 80 Prozent der Lokomotivführer organisiert, hatte einmal mehr bewiesen, dass kaum ein Waggon mehr rollt, wenn sie es so will.
Ob die Warnstreiks zum aktuellen Zeitpunkt strategisch glücklich sind, ist allerdings eine andere Frage. In Kürze soll eine politische Grundsatz- entscheidung fallen, die das Gewerkschaftslager kräftig durchschütteln dürfte. Derzeit berät die Bundesregierung über die Frage, ob berufsständische Gewerkschaften wie die Lokführer künftig mit den etablierten DGB-Gewerkschaften tarifpolitisch kooperieren sollen – oder müssen. Damit reagiert Schwarz-Gelb auf ein Urteil des Bundesarbeits- gerichts, das 2010 das Prinzip der sogenannten Tarifeinheit kippte. In dem bis dahin geltenden Grundsatz, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten darf und nicht mehrere Gewerkschaften unterschiedliche Regelwerke aushandeln können, sahen die Arbeitsrichter einen Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit des Grundgesetzes – und eine Benachteiligung kleinerer Gewerkschaften.
Benachteiligung
Seitdem bangt die Wirtschaft um den Betriebsfrieden. Wenn sich konkurrierende Arbeitnehmergruppen gegenseitig hochschaukeln, könnten vielerorts permanente Tarifkonflikte drohen, so ihre Sorge. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warnt vor wahren „Streikkaskaden“. Es müsse verhindert werden, dass „immer mehr neue Spartengewerkschaften das Land in ein Tarifchaos führen“, heißt es in einem Positionspapier des Verbands. Der unter chronischem Mitgliederschwund leidende Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seinerseits fürchtet die Konkurrenz aggressiver Spezialistengewerkschaften. Weshalb DGB und BDA in einem ungewöhnlichen Schritt gemeinsame Eckpunkte zur gesetzlichen Wiedereinführung der Tarifeinheit vorgelegt haben. Die Idee: Es sollen nur die Tarifverträge jener Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat – in aller Regel eine DGB-Organisation. Die Friedenspflicht solle dann aber auch für andere Gewerkschaften gelten.