Tarifpolitik „Ein Lohnrückstand des öffentlichen Dienstes ist kaum noch belegbar“

Verdi-Streik Quelle: imago images

Die Löhne im öffentlichen Dienst sind seit 2012 spürbar gestiegen. Die aktuellen Tarifforderungen seien daher maßlos, schreibt Hagen Lesch, Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft. Ein Gastbeitrag.

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Geht es nach Verdi und dem DBB Beamtenbund und Tarifunion, sollen die Löhne im öffentlichen Dienst um 10,5 Prozent steigen, mindestens aber um 500 Euro. Begründet wird diese Forderung mit der hohen Inflation. 

Was dabei aber bisher nicht erwähnt wurde: In den zehn Jahren zwischen 2012 und 2021 stiegen die Tariflöhne und Beamtengehälter im öffentlichen Dienst jedes Jahr im Schnitt um gut 2,5 Prozent. Die Inflationsrate legte im gleichen Zeitraum um knapp 1,4 Prozent pro Jahr zu. Daraus ergibt sich ein jährlicher Reallohngewinn von gut 1,1 Prozent. In den fünf Jahren zwischen 2018 und 2022, die durch die Coronapandemie und die steigende Inflation geprägt waren, schrumpften die Reallöhne jährlich im Schnitt um knapp 0,5 Prozent, wobei dies allein dem Reallohnverlust im Jahr 2022 geschuldet ist.

Im Vergleich mit anderen Branchen zeigt sich: Der immer wieder thematisierte „Rückstand“ des öffentlichen Dienstes gegenüber der Privatwirtschaft ist selbst im langfristigen Vergleich ab dem Jahr 2000 kaum mehr statistisch belegbar. Seitdem legten die Tariflöhne im öffentlichen Dienst – ebenso wie im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt – um 53 Prozent zu, während es bei Banken und Versicherungen 46 Prozent und 51 Prozent, im Einzel- und Großhandel 52 Prozent und 56 Prozent sowie im Gastgewerbe 53 Prozent waren. Ein nennenswerter Rückstand ist allein im Vergleich zu den bestzahlenden Industriebranchen – Metall und Chemie – zu beobachten. Dort lagen die Zuwächse bei 68 und 70 Prozent.

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW)

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Nimmt man 2010 als Basisjahr des Vergleichs, schrumpfen die Unterschiede: 31 Prozent im öffentlichen Dienst stehen 31 Prozent in der Chemieindustrie und 33 Prozent in der Metallindustrie gegenüber. In der Gesamtwirtschaft waren es 29 Prozent.

Die jetzige Forderung von ver.di und Co. würde allein die Kommunen nach Angaben der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber (VKA) mindestens mit 15,4 Milliarden Euro belasten. Dabei wollen die Gewerkschaften offenbar das ganze Lohngefüge einebnen: In der untersten Tariflohngruppe E1, die für Einsteiger derzeit ein Monatseinkommen von 2.016 Euro vorsieht, beläuft sich die Forderung auf fast 25 Prozent, bei langjährig Beschäftigten (Erfahrungsstufe 6, E1) auf über 22 Prozent. Bei Mitarbeitern der zweituntersten Gruppe E2 sind es 22 (Einsteiger) und 17 Prozent (Langjährige). Im Durchschnitt ergibt sich laut VKA eine Forderung von knapp 15 Prozent.  

Die Forderung sprengt jedes Maß. Erstens liegt sie deutlich über der Inflationsrate, die 2022 bei 7,9 Prozent lag und in diesem Jahr etwa 6,0 Prozent erreicht. Zweitens liegt sie deutlich über den Forderungen anderer Multibranchengewerkschaften. So verlangte die IG Metall in der Stahlindustrie im vergangenen Frühjahr 8,2 Prozent sowie 8,0 Prozent in der Metall- und Textilindustrie im vergangenen Herbst. Die Chemiegewerkschaft wollte in der Chemieindustrie und in der Papiererzeugung im letzten Herbst jeweils eine Kaufkraftsicherung. 



Drittens lassen die Gewerkschaften außer Acht, dass die Energiepreisexplosion einen exogenen Schock darstellt, der zu Wohlfahrtsverlusten führt, die uns alle treffen. Um sich klarzumachen, welche Dimension der Wohlstandsverlust annimmt, hilft ein Blick auf die Kosten unserer Energieimporte. Deutschland muss nach Schätzungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft in diesem Jahr 136 Milliarden Euro mehr für Energieimporte ausgeben, im vergangenen Jahr waren es etwa 123 Milliarden Euro. Diese Beträge fließen ins Ausland ab und belasten Unternehmen genauso wie Arbeitnehmer und Angestellte der Privatwirtschaft und Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Unternehmen – auch die Kommunen – haben weniger Geld zum Investieren und Arbeitnehmer haben weniger Geld für den Konsum.

Offenbar glauben die Gewerkschaften, dass das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, im öffentlichen Dienst überschaubar ist. Was sie aber ignorieren: Die dadurch aufgehäuften Schulden schränken künftige Lohnverhandlungsspielräume ebenso ein wie künftige Einstellungspotenziale.

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Zudem hat die Bundesregierung mehrere Entlastungspakte geschnürt, die dazu beitragen, die schlimmsten Belastungen für die Verbraucher abzufedern. Schließlich hat Bundeskanzler Olaf Scholz den Tarifparteien im Rahmen der Konzertieren Aktion angeboten, tarifliche Einmalzahlungen bis zu 3.000 Euro pro Kopf steuer- und sozialabgabenfrei zu stellen. Damit will er verhindern, dass es zu Lohnabschlüssen kommt, die die Inflation weiter anheizen werden.

In den jüngsten Tarifverhandlungen wurde diese Möglichkeit reichlich genutzt. Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes sollten diesem Beispiel folgen. Die sogenannten Inflationsausgleichsprämien stabilisieren kurzfristig die Konsumnachfrage, ohne die Lohnkosten der Unternehmen dauerhaft in die Höhe zu treiben. 

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Allerdings gilt auch dabei: Durch maßlose Tarifabschlüsse eine Lohn-Preis-Spirale anzufachen, wäre nur ein kurzfristiger Erfolg für ver.di und Co. Der Rückblick auf die sogenannte „Kluncker-Runde“ im öffentlichen Dienst Anfang der 1970er-Jahre zeigt: Der Konflikt mit der Zentralbank wäre programmiert. Und dieser Konflikt würde viele Verlierer hervorbringen.

Der Beitrag erschien zuerst in „Wirtschaftsdienst - Zeitschrift für Wirtschaftspolitik“, Ausgabe 2/2023.

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