Zwar soll die Höhe des Mindestlohns künftig von einer Kommission festgelegt werden, in der je drei Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebern sitzen. „Doch das ist eine Mogelpackung“, warnt Arbeitsrechtler Thomas Lobinger. Es werde vordergründig so getan, als setzten die Tarifparteien den Mindestlohn fest. In Wahrheit sei die Kommission „eine parastaatliche Veranstaltung“. Lobinger: „Wenn sich Gewerkschaften und Arbeitgeber nicht einigen, muss der Staat eine Zwangsschlichtung anordnen. Und dann schlägt wieder die Stunde der Geißlers und Biedenkopfs.“ Ohnehin kann die Kommission keine Beschlüsse mit Gesetzeskraft fassen. Jede Erhöhung des Mindestlohns wird daher künftig per Rechtsverordnung durchgesetzt. Mithin durch einen politischen Akt der Bundesregierung – und wahrscheinlich besonders gern in Wahlkampfzeiten.
Hinzu kommt: Ist der Mindestlohn einmal eingeführt, besteht die Gefahr, dass er für viele Tarifbereiche zur Referenzgröße wird. „Dann steht in Tarifverträgen plötzlich zum Beispiel der Satz: Die Arbeitnehmer erhalten 103, 107 oder 185 Prozent des geltenden gesetzlichen Mindestlohns“, prophezeit Metaller Barczynski. „Auf diese Weise erhält der Staat eine lohnpolitische Schlüsselposition, die ihm in einem Land mit Tarifautonomie nicht zusteht.“
Dass die Tarifautonomie zu zerbröseln droht, liegt indes nicht nur am Mindestlohn. Wenn es Probleme gibt, rufen die Tarifparteien immer häufiger nach dem Staat, und der lässt sich nicht lange bitten. „Die aktuelle Politik trägt dazu bei, die Rolle des Staates in der Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik über Gebühr auszubauen und die Tarifautonomie schleichend zu unterhöhlen“, warnt Christoph Schmidt, der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen und Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Um renitente Klein- und Spartengewerkschaften auszubremsen, soll die große Koalition auf Drängen des DGB und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die sogenannte Tarifeinheit im Betrieb wieder herstellen. Das Prinzip, wonach in einem Betrieb nur eine Gewerkschaft Tarifverträge abschließen darf, hatte das Bundesarbeitsgericht 2010 gekippt. Die Richter erkannten darin einen Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit des Grundgesetzes. Nun aber sieht der Koalitionsvertrag von Union und SPD die Wiedereinführung der Tarifeinheit vor – um „den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken.“
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, bereitet die große Koalition zudem eine drastische Ausweitung der sogenannten Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) von Tarifverträgen vor. Dabei schreibt das Bundesarbeitsministerium einen Tarifvertrag auch all jenen Unternehmen vor, die nicht Mitglied im Arbeitgeberverband sind. 2013 war dies bei 239 Verträgen der Fall. Bislang war die AVE allerdings nur erlaubt, wenn mindestens 50 Prozent der jeweiligen Branchenbeschäftigten bei einem tarifgebundenen Unternehmen arbeiten. Diese Grenze wollen Union und SPD abschaffen, ausreichend ist künftig „das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses“. Das finden auch Arbeitgeberverbände wie der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie gut. „Die Tragweite dieser Reform wird noch völlig unterschätzt. Der Staat erhält dadurch noch mehr lohnpolitische Kompetenzen“, warnt Ökonom Schmidt.