Tarifverhandlungen Wie viel Lohnerhöhung verträgt das Jobwunder?

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Ruppige Gewerkschaften

Tatsächlich haben die Arbeitnehmer nach Berechnungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung monetär kaum vom Aufschwung profitiert. 2011 stiegen die Reallöhne (brutto) pro Kopf um magere 1,1 Prozent, 2010 war es nur 1,0 Prozent. Für die Jahre zuvor listeten die Wissenschaftler stets eine Null oder ein kleines Minus auf. Von 2000 bis 2011 sind die Reallöhne so insgesamt um 2,93 Prozent gesunken. Dabei traf es Fachkräfte genau wie Ungelernte. In einer Studie über die Lohnentwicklung schreibt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): Die vergangene Dekade war für die Arbeitnehmer „ein verlorenes Jahrzehnt“.

Allerdings gab es für den Sparkurs einen Grund. In der ersten Hälfte der Neunzigerjahre waren die Löhne mit dem Wiedervereinigungsboom um bis zu zwölf Prozent hochgeschossen. Deutschland startete mit einem Kostenhandicap in die Währungsunion, die Arbeitslosenzahl erklomm schwindelerregende fünf Millionen. Um die Belegschaften zu retten, stimmten die Gewerkschaften schließlich moderaten Lohnabschlüssen zu. Von 1999 bis 2007 sanken die Lohnstückkosten in der Gesamtwirtschaft um knapp vier Prozent. Eine Brachialkur mit Erfolg: Die Betriebe gewannen ihre Wettbewerbsfähigkeit zurück und schufen seit Anfang 2006 fast 3,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs.

Keine Einigung unter drei Prozent

Heute indes üben sich die Gewerkschaften in traditioneller Ruppigkeit. Für den öffentlichen Dienst bereitet Verdi erste Warnstreiks vor, eine Streikleitung ist schon eingerichtet. 6,5 Prozent mehr Geld haben Verdi und Beamtenbund gefordert. „Die Erwartungshaltung der Beschäftigten ist diesmal sehr hoch“, sagt Verdi-Chef Frank Bsirske. Er verlangt „von den Arbeitgebern in der ersten Runde ein verhandlungsfähiges Angebot. Wenn das ausbleibt, sind wir sehr kurzfristig mobilisierungsfähig.“

Den Arbeitgebern schwant bereits ein teures Ende: „Wir werden keine Einigung unter drei Prozent hinbekommen“, sagt der Chef eines Kommunalverbands. Und jeder Prozentpunkt mehr Lohn kostet die Kämmerer rund 760 Millionen Euro pro Jahr. Bei einem hohen Abschluss werde „vielen Kommunen nichts anderes übrig bleiben, als ihre Leistungen zu reduzieren und frei werdende Stellen nicht wieder zu besetzen“, warnt Thomas Böhle, Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände.

Billig wird 2012 kein Abschluss werden. Auch die sonst eher moderate IG Bergbau, Chemie, Energie will sechs Prozent mehr Lohn rausholen, die IG Metall fordert 6,5 Prozent. Der Druck ist hoch: Wegen der Krise hatten die Metaller bei der letzten Runde auf eine Lohnforderung verzichtet. Sie akzeptierten einen Vertrag, der für 2010 nur eine Einmalzahlung vorsah und von April 2011 an ein Plus von 2,7 Prozent. Intern gilt in der IG Metall nun ein Abschluss von 3,8 Prozent als absolute Untergrenze.

Umso entsetzter waren die Arbeitgeber, als Bundesarbeitsministerin von der Leyen mahnte, die Beschäftigten müssten das Lohnplus jetzt „auch spüren“. BDA-Präsident Dieter Hundt lud seinen Ärger telefonisch ab, Gesamtmetall-Chef Martin Kannegiesser wählte die Fernsehkamera. Er frotzelte, von der Leyen gebärde sich als „Inge Meysel der Sozialpolitik“. Niemand müsse die Unternehmen belehren, was sie ihren Mitarbeitern schuldig seien.

Doch genau um diese Schuld geht es in der Tarifrunde – und um die Frage, wer die Kosten der Krise getragen hat. Als die Konjunktur im Sommer 2007 weltweit auf Talfahrt ging, setzten Unternehmen in den USA oder Großbritannien Tausende Mitarbeiter vor die Tür. Anders in Deutschland: Unterstützt durch staatlich subventionierte Kurzarbeit hielten die Betriebe, so weit es ging, an ihren Beschäftigten fest.

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