Tatort Krankenhaus Streit um angebliche tausendfache Tötung von Patienten

Karl Beine ist sich sicher: In Deutschland werden Tausende Patienten in Krankenhäusern und Pflegeheimen vorsätzlich getötet. Seine Studie zeige das. Die Krankenhausgesellschaft ist empört, Experten bezweifeln die Zahlen.

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Viel häufiger als bislang vermutet werden angeblich Patienten in Kliniken und alte Menschen in Pflegeheimen zu Opfern von Gewalt – mit tödlichen Folgen. Quelle: gms

Berlin Der Fall des ehemaligen Krankenpflegers Niels H. hat Deutschland erschüttert. Heute sitzt er eine lebenslängliche Haftstrafe ab, im Prozess hatte er ein Geständnis abgelegt: Über seinen Gutachter ließ er verkünden, dass er 60 Patienten vorsätzlich in lebensgefährliche Situationen gebracht habe, davon seien 25 Patienten verstorben. Prozessbeobachter gingen sogar von 200 Fällen aus. Ein schrecklicher Einzelfall, hieß es damals.

Stimmt nicht, meint Karl Beine. Er ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke und Chefarzt am Marien-Hospital in Hamm, er gilt als Deutschlands bekanntester Experte für Patiententötung. „Jedes Mal, wenn eine Tötungsserie gerichtsbekannt wird, wenn ein Täter verhaftet wurde, treten die Verantwortlichen vor die Kamera und sagen: ‚Das war ein Einzelfall.‘ Diese unbewiesene These können wir jetzt hinterfragen“, sagt Beine.

Er hat zusammen mit der Journalistin Jeanne Turczynski vom Bayrischen Rundfunk ein Buch geschrieben: Tatort Krankenhaus. Darin schreiben sie, dass Niels H. und weitere Mordserien in Kliniken und Heimen nur die Spitze eines Eisbergs seien. Die Zahl der Tötungen gehe in die Tausende. Viel häufiger als bislang vermutet würden Patienten in Kliniken und alte Menschen in Pflegeheimen zu Opfern von Gewalt – als Folge eines maroden Gesundheitssystems.

Beine und Turczynski beziehen sich auf eine eigene, bislang unveröffentlichte Studie. An jedes Krankenhaus und jedes Pflegeheim in Deutschland wurde auf postalischen und elektronischen Weg ein Fragebogen geschickt. 5055 Kranken-, Altenpfleger und Ärzte beteiligten sich an der Umfrage und beantworteten die entscheidenden Fragen: „Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?“ Und: „Haben Sie in den vergangenen zwölf Monaten schon einmal von einem oder mehreren Fällen gehört, dass jemand das Leiden von Patienten aktiv beendet hat?“ Passive Sterbehilfe war damit nicht gemeint.

Im Krankenhaus antworteten 3,4 Prozent der Ärzte, 5 Prozent der Altenpfleger und 1,5 Prozent der Krankenpfleger mit Ja. Im Pflegeheim waren es 1,01 Prozent der Krankenpfleger und 1,83 Prozent der Altenpfleger. Diese Zahlen rechneten Beine und Turczynski auf die Gesamtheit der drei Berufsgruppen hoch und kamen auf 21.000 Tötungen. Bei der Vermarktung des Buches wurden daraus 21.000 getötete Patienten pro Jahr, versehen mit einem Fragezeichen.

Diese Zahl hatte dafür gesorgt, dass das Buch heftig diskutiert wird. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) zeigt sich „empört und verletzt“, eine ganze Berufsgruppe werde unter Generalverdacht gestellt, dass sie „vorsätzlich und niederen Beweggründen“ handle. „In einem Bereich, wo das Vertrauen zwischen Ärzten, Pflegern und Patienten von ganz entscheidender Bedeutung ist, halten wir es für unverantwortlich, wie mit angeblichen Zahlen umgegangen wird“, sagt der DKG-Präsident Thomas Reumann.


Warum Experten zweifeln

Auch Experten zweifeln die 21.000 Todesfälle an. „Die Zahl, die in den Vordergrund gestellt worden ist, kann man aus meiner persönlichen Einschätzung der Lage heraus nicht für belastbar halten“, sagt Karl Lauterbach, der Gesundheitsexperte von der SPD. Er hält auch die Studie für ungeeignet: „Es kommen sehr viele unterschiedliche Dinge zusammen. Ob man schon einmal etwas getan hat, oder etwas gehört hat: Das reicht nicht aus, um eine sehr, sehr wichtige Zahl zu erhärten.“

Kurioserweise relativiert sogar Baum selbst bei der Buchvorstellung die Zahl. Man dürfe aus seiner Schätzung nicht auf 21.000 bisher unentdeckte Mord- oder Totschlagsdelikte schließen. Seine Studie sei nicht repräsentativ und zudem seien die Fragen so vorsichtig formuliert worden, dass er es nicht ausschließen könne, dass manche Befragten ihr Handeln während des Sterbeprozesses eines Patienten besonders kritisch beurteilt hätten.

Wichtig ist das Buch trotzdem, urteilt Lauterbach: „Es ist ein Debattenbuch, es ist kein wissenschaftliches Buch, welches eine These beweist.“ Er kenne die Einzelfälle sehr gut und halte es für unwahrscheinlich, dass die Zahl tatsächlich so hoch sei. „Das relativiert aber nur die Zahl und nicht das Phänomen“, sagt Lauterbach. „Die Ursachen sind sehr unterschiedlich. Aber den ökonomischen Druck, den es mittlerweile in den Kliniken in der Pflege gibt, kann man durchaus als problematisch ansehen.“

Denn die These von Beine lautet, dass je mehr Profit, Apparate und Pharmazeutika im Mittelpunkt des Gesundheitssystems stehe, desto größer werde die Gefahr für Patiententötungen. Die Einzeltäter litten zwar nicht unter dem ökonomischen Druck, sondern beispielsweise unter Allmachtsphantasien. Doch der Druck sorge dafür, dass solche Todesserien über einen längeren Zeitraum unbemerkt bleiben könnten. Gestresste oder unzufriedene Pfleger und Ärzte würden eher Alarmsignale bei Kollegen übersehen.

Die Situation in der Pflege müsse deshalb verbessert werden, fordert Beine. Beispielweise durch eine bessere Ausbildung, indem Pfleger und Ärzte bei der Bewältigung ihres Alltags unterstützt werden, durch ein Whistleblowing-System zur Meldung von Auffälligkeiten und den Abbau der bürokratischen Aufgaben.

Seit 25 Jahren beschäftige er sich mit dem Thema Gewalt in der Pflege, zwei Studien hat er dazu verfasst. 1998 und 2011. Aber wie Beine in Berlin feststellt: „Jemand, der gehört werden will, muss die Stimme anheben.“ Mit seinem Buch hat er das getan.

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