Tauchsieder Acht Lehren aus der NRW-Wahl

Die Frage des Abends: Kann CDU-Ministerpräsident Wüst sein Amt verteidigen, oder schafft SPD-Rivale Kutschaty den Sprung in die Staatskanzlei? Quelle: dpa

Das wichtigste Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen: Die Deutschen mögen es mittiger und pragmatischer, lebensnäher und lagerneutraler, sicherer und grünstichiger. Eine Schnellanalyse.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen sind oft ein bundespolitisches Spektakel – mit weit reichenden Folgen für das gesamte Land. Johannes Rau, Norbert Blüm, Wolfgang Clement, Jürgen Rüttgers, Norbert Röttgen, Armin Laschet – sie alle waren Ministerpräsident in Düsseldorf oder wollten es werden, sie alle reüssierten in Berlin oder scheiterten dort, auf die ein oder andere Weise. Und dann war da natürlich noch die 14. Landtagswahl am 22. Mai 2005, die eine ganze Epoche prägte: Der SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück unterliegt der CDU mit Jürgen Rüttgers – weil die Wähler an Rhein und Ruhr den Daumen senken über die Sozialdemokratie in Berlin. In Düsseldorf markiert das Datum nur einen Machtwechsel. In Berlin eine Zäsur – und den Anfang einer Ära, die nicht gerade segensreich unser Heute prägt.

Lesen Sie auch: NRW hat gewählt: CDU vorne – aber Wahlsieger sind die Grünen

Zur Erinnerung: Kanzler Gerhard Schröder hat das Land damals aus Sicht der Genossen viel zu viel sozialreformiert und aus Sicht der „bürgerlichen Wähler“ viel zu wenig – und er versteht das sofort, provoziert Neuwahlen, kündigt noch am Wahlabend an, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Der Rest ist Legende: Schröder verliert die Abstimmung im Bundestag – und der Bundespräsident ruft mit weit aufgerissenen Notverordnungsaugen nicht nur Neuwahlen aus, sondern auch offen zur Abwahl Schröders auf: Nach sechs Jahren Rot-Grün stehe „unsere Zukunft und die unserer Kinder auf dem Spiel“ (so Horst Köhlers Text) – und nur eine thatcheristisch auftrumpfende Schwarz-Gelb-Politik kann die Republik vor dem nahen Ruin retten (so Köhlers Subtext).

Und CDU-Chefin Angela Merkel? Nun, sie geht Köhler damals auf den Leim, zieht veränderungseifrig und siegestrunken durchs Land – und schenkt den Deutschen dabei einen hochprozentigen Reformprimitivo nach dem nächsten ein: Steuerradikalvereinfachung und Rentenrundumreform, Arbeitnehmerinteressenverbot, Krankenkassen-Kopfpauschale – bis den Wählern ganz schwindlig und schummrig zumut' wird. Sie merken, dass das Merkelsche Deregulierungsdestillat und Privatisierungsgebräu aus unreinem Liberalismus gewonnen ist, lehnen das Schwerbekömmliche schroff ab – und lassen Merkel am Wahlabend mit einem Kater aufwachen: Die Union gewinnt nur knapp, die Kanzlerschaft steht unter dem Vorbehalt maßvollen Regierens – und Merkel zieht daraus die Konsequenz, alle Ambitionen zu begraben. Sie bietet sich den Deutschen fortan als Bestandshüterin an, baut das Kanzleramt zur Nicht-Regierungsorganisation um und amtiert schon bald mit aller Kraft den vielen Krisen hinterher – übrigens zunächst an der Seite von Peer Steinbrück, dem Wahlverlierer in NRW, den sie zu ihrem ersten Finanzminister kürt. Die Rechnung für ihre vielen Versäumnisse – Klimawandel, Energiewende, Digitalisierung, Bundeswehr – begleichen wir heute.

Gemessen daran, sind die Landtagswahlen 2022 in Nordrhein-Westfalen ein provinzieller Witz – und paradoxerweise eben deshalb auch bundespolitisch aufschlussreich. Die acht wichtigsten Trends und Lehren der Wahl in Kürze:

1. Die politischen Sphären der Landes- und Bundespolitik können heute meilenweit auseinander liegen – und tun es auch.

Der Ministerpräsident eines großen Flächenlandes war bis vor zwei Jahrzehnten fast zwangsläufig auch das, was man ein bundespolitisches „Schwergewicht“ nannte: Helmut Kohl, Christian Wulff und Roland Koch, Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück, zuletzt noch Markus Söder und Armin Laschet – sie alle hatten „natürlich“ auch Kanzlerambitionen. Doch bei Lichte besehen, ist die Zeit der Schattenkanzler in den Landeshauptstädten längst vorbei: Länderchefs wie Winfried Kretschmann, Malu Dreyer, Stephan Weil, Volker Bouffier, schon gar Anke Rehlinger, Dietmar Woidke und Reiner Haseloff erwecken nie den Eindruck, auf die Berliner Bühne drängen zu wollen. Auch Hendrik Wüst (CDU) und Thomas Kutschaty (SPD), die beiden Chef-Kandidaten in NRW, stehen bundespolitisch völlig blank da – und empfinden das nicht als Mangel.

2. Die Wähler halten bei Landtagswahlen nicht Gericht über die Politik in Berlin – sondern über die Landespolitik.

Alles Gerede von „Signalwirkung“ (für Berlin), „Rückenwind“ (für die eine oder andere Partei) und der „bundespolitischen  Bedeutung“ (eines so oder so interpretierten Ergebnisses) ist daher nur insofern von Bedeutung, als dieses Gerede natürlich auch eine eigene politische Wirkmächtigkeit entfaltet. Aber ansonsten irrelevant. Die Wähler gucken sehr genau hin. Sie wählen Solidität und Verlässlichkeit, Ruhe und geräuschlose Führung: eine gute, solide, Schul-, Sozial-, Sicherheits-, Verkehrs- und Klimapolitik: vor Ort.

3. Die Wähler wählen speziell auf Landesebene gern Personen, also nicht nur Kompetenz, sondern auch Sympathie – einen Chefarzt und einen Pfleger zugleich.

Anders gesagt: Sie wählen auf Landesebene weniger weltanschaulich, mehr lebensnah, pragmatisch, nachbarschaftlich, also wen sie sympathisch und undogmatisch finden, wer das Naheliegende entschlossen adressiert und das Selbstverständliche kundig bearbeitet – und wer „der arbeitenden Mitte“ dabei glaubwürdig und dauerhaft Signale des Verstehens zu senden versteht. Einen, wie Daniel Günther etwa, der vorige Woche mit 43,4 Prozent der Stimmen als Ministerpräsident in Schleswig-Holstein bestätigt wurde, etwa weil er die Klimawende als Chance begreift, um sein Land wirtschaftlich zu stärken. Oder einen wie Herbert Reul, den CDU-Innenminister in NRW, der sich dem Kampf gegen die Clan-Kriminalität verschrieben hat: Wüsts großer Trumpf in diesem Wahlkampf. Keine Angst auf dunklen Bahnhöfen und gute Schulen, mehr Radwege und weniger Stau, prima Erneuerbare und sichere Arbeitsplätze – und dabei immer recht fleißig und freundlich, jedenfalls nicht sprunghaft und panisch wie zuletzt Tobias Hans in einem Handy-Video angesichts der hohen Benzinpreise – bevor er im Saarland unterging.

4. Die Parteien der demokratischen Mitte profitieren von den multiplen Krisen (Krieg, Inflation, Klimawandel, Pandemie)

... und entlarven die immer wieder munter hervor sprießenden Befunde einer „Spaltung“ des Landes als Realitätsfiktion. Natürlich, im Osten der Republik sieht es noch mal anders aus. Aber der Zug zur Mitte ist in diesen Wochen unverkennbar – und zwar über alle Scheingräben hinweg, die etwa Befürworter und Gegner der Impfpflicht oder von Waffenlieferungen an die Ukraine angeblich trennen. Der Schrumpfprozess der AfD ist angesichts des eklatanten Desinteresses der Partei am Wohlergehen des Landes so verdient wie markant; die Linke operiert (abgesehen von Sahra Wagenknecht) längst unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

5. Lagerbildungen und Klüngelkonzentrationen gehören der Vergangenheit an.

Die parteipolitischen Machtlogiken, Lagerbildungen und Klüngelkonzentrationen des 20. Jahrhunderts sind seit der geglückten Ampelbildung in Berlin nicht nur passé – sondern auch derart von gestern, dass jeder Politiker, der an ihnen festhält, nurmehr sein fossiles Denken offenbart. Daniel Günther will Jamaika in Schleswig-Holstein fortsetzen, obwohl er beinahe die absolute Mehrheit gewonnen hätte: Das ist nicht nur taktisch klug, sondern ziemlich sicher auch ehrlich gemeint – ganz einfach, weil er einen schwarz-grünen Liberalismus verkörpert. Hendrik Wüst verkörpert ihn eher nicht, und wenn er dennoch recht stark abschneidet, dann wohl vor allem deshalb, weil taktische Wähler lieber ihn als seinen Kontrahenten an der Spitze eines heterogenen Bündnisses sehen wollen: Stünden Koalitionen in NRW zur Wahl, hätten Schwarz-Gelb und Rot-Grün keine gute Chance im Vergleich zu Jamaika und Schwarz-Grün oder auch zur Ampel. (Nur in Klammern: Für die CSU und Markus Söder in Bayern verheißt das nichts Gutes. Und wenn die Friedrich-Merz-CDU aus Wahlsiegen den Schluss zöge, mehr „Akzentuierung“ und „bürgerliche Schärfe“ bekäme ihr gut, dürfte sie schon ganz alsbald abermals ein blaues Wunder erleben.)

6. Die CDU kann immer (noch und überall) Volkspartei – SPD und Grüne nur ausnahmsweise.

Der Erfolg von Daniel Günther unterstreicht noch einmal die hegemoniale Stellung der Union im Parteienspektrum: Sie hat als einzige Partei in allen Bundesländern ein 35-Prozent-Potenzial, auch wenn sie es nicht immer ausschöpfen kann. Sie allein adressiert „die Mitte“ mit Kandidaten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: vom grünliberalen „Genossen Günther“ über Sachsens routiniertem  Volkszornzuhörer Michael Kretschmer bis hin zum bayerischen Opportunitätsspürhund Markus Söder. Die SPD dagegen versteht sich noch immer zuerst als Sorgenanlaufstelle und Betreuungsagentur, engt ihre Spielräume mit dem Fokus auf „soziale Themen“ und „kleinen Leute“ zu sehr ein – und reüssiert nur mit dezidiert „bürgerlichen Kandidaten“ wie Olaf Scholz und Stephan Weil oder praktischen Sympathieträgerinnen wie Malu Dreyer und Franziska Giffey, die in jeder Minute ihrer Amtsführung signalisieren, sich lieber nicht mehr in die sozialistische Theorie vertiefen zu wollen.

7. Die Grünen werden doppelt getragen in diesen Tagen.

Einerseits von der Popularität, die Annalena Baerbock und Robert Habeck genießen als Exponenten eines modernen Politikstils: menschlich und mitfühlend die eine, zweifelnd entschlossen der andere – ausgestattet mit einem funktionierenden Wertekompass alle beide. Und andererseits, weil alle Politiker, Managerinnen und Bürger sich die Energie-, Industrie- und Verkehrspolitik heute grüner wünschen denn je, zumal vor der eigenen Haustür, in der eigenen Region: Radschnellwege statt Autobahnen, lebenswerte Innenstädte statt Feinstaubrisiken – und Wasserstoff-Stahl von ThyssenKrupp statt Braunkohlebagger in Garzweiler.

8. Die Liberalen haben’s dreifach schwer in diesen Tagen

Sie trennen sich aus Sorge um ihre Stammklientel erstens nicht von ihrem leichtliberalen Erbe, halten betonköpfig am Tempolimit fest und unterstützen auch Porschefahrer mit einem Tankrabatt – blöder kann man Geld nicht verschwenden. Zweitens muss ausgerechnet Christian Lindner, der als Finanzminister so gerne Sparkommissar sein wollte, ständig Sondervermögen schaffen und Klimaschutzfonds erfinden, um trotzdem neue Schuldenrekorde in eine Zukunft steigender Zinsen hinein anzuhäufen. Drittens hilft Lindner auch sein großes rhetorisches Talent nicht, um zu verschleiern, dass die grüne Konkurrenz in Wind- und Solarstrom schon immer „Freiheitsenergien“ erblickt hat – und nicht erst, seit Putin die Ukraine überfallen hat und Ahr, Erft und Wupper bei Starkregen gefährlich anschwellen.

Koehler Paper Ein Papierhersteller, der Zoll – und eine Rechnung über 193.631.642,08 Dollar

US-Behörden setzen dem deutschen Papierhersteller Koehler Paper mit einer horrenden Rechnung zu: Der Mittelständler aus Baden-Württemberg soll Zölle und Zinsen von insgesamt 194 Millionen Dollar überweisen.

Immobilien Hat die Einzimmer-Wohnung ausgedient?

Die Chancen für Kapitalanleger sind so groß wie nie, sagt Immobilienexperte Florian Bauer. Und erklärt, warum eine Dreizimmerwohnung in Hannover vielversprechender ist als eine Einzimmerwohnung in München.

Chaostage in Lehrte Die seltsame Pleite der Helma Eigenheimbau AG

Nach dem Insolvenzantrag der börsennotierten Helma Eigenheimbau AG kippen nun wichtige Tochterunternehmen in die Insolvenz – und das Pleite-Manöver des Aufsichtsrats wirft neue Fragen auf.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Kurzum, die bundespolitische Bedeutung der Wahl in NRW ist gering. Aber als Barometer der politischen Stimmung in Deutschland ist die Wahl durchaus aufschlussreich: Die Deutschen mögen es gern mittiger und pragmatischer, lebenspraktischer und lagerneutraler, sicherer und grünstichiger denn je: Regierungen bar aller Ideologie, politisch verkörperte Normalität – stark angereichert mit wertbasierter Normativität und zielfestem Modernisierungswillen.

Lesen Sie auch das Interview mit Hendrik Wüst vor der NRW-Wahl: „Wir könnten schon lange viel schneller sein“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%