Tauchsieder
Das letzte Abendmahl. Quelle: imago images

An die Tafel, Frau Merkel!

Die Kanzlerin ermahnt den Vereinsvorsitzenden der Essener Tafel. Das ist peinlich. Schwerer wiegt: Sie ist blind für Verteilungskämpfe zwischen Flüchtlingen und Armen - und für die Dysfunktionalität des Sozialstaats.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Die AfD ist fraglos die erfolgreichste Partei der vergangenen drei, vier Jahre: Sie träufelt ihre rechtsnationale Säure in jede Pore der Gesellschaft, verstreut in den „Sozialen Medien“ das Gift des Ressentiments und zersetzt mit ihrem destruktiven Hass auf alles Gute und Mitmenschliche die Gesellschaft, die Demokratie.

Doch das vielleicht größte Problem ist, dass die Berliner Restpolitik es der AfD so leicht macht: mit ihren Fehlern, Defiziten und Blindstellen, mit ihrer Realitätsverweigerung - und vor allem mit ihrer mangelnden Ambivalenzfähigkeit. Dabei ist es eigentlich nicht schwer zu begreifen: Diesem Land ging es noch nie so gut wie heute, und es hat zugleich ein enormes Armutsproblem. Das Füllhorn des Sozialstaats schüttet mit fast 900 Milliarden Euro unendlich viel Geld über uns Bürger aus - und hält für Bedürftige trotzdem zu wenig vor. 

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) steht seit mehr als zwölf Jahren an der Spitze der Realitätsverweigerer: Sie hat dem Sozialstaat mit ihrer Flüchtlingspolitik zusätzliche Kosten in Höhe von mindestens 20 Milliarden Euro jährlich aufgebürdet und einen Verteilungskampf zwischen den Schwachen und Schwächsten eröffnet, dabei stets das Hohelied der kulturell-religiösen Diversität gesungen und noch den letzten Zuwanderer ohne Bildungsabschluss als eminente Chance für den Standort Deutschland gepriesen.

Wenig offenherzig und immer hoch skepsisbereit war Merkel immer nur dann, wenn es um angestammte Putzmänner oder Friseurinnen ging: Sie wurden von Union und FDP über lange Jahre des Anspruchsdenkens verdächtigt und sollen noch heute ein schlechtes Gewissen dafür haben, einen gesetzlichen Mindestlohn von monatlich 1500 Euro zu kassieren. Und 100 Euro extra für einen Fleischzerleger-Rentner, dem nach 30 Jahren Arbeit eigentlich nur die Grundsicherung zusteht - ja, wer soll das bezahlen? Man kann dem Vereinsvorsitzenden der Essener Tafel, Jörg Sartor, daher gar nicht dankbar genug sein, dass sich an seinen Worten und Taten, ganz unfreiwillig, eine Diskussion darüber entzündet, was alles schief läuft in diesem Land: die Diskussion selbst, deren Teilnehmer gern vorurteilsfest und aktivistisch agitieren, nicht fakten- und sachorientiert argumentieren - und eine Sozialpolitik, die ihren Namen nicht verdient.

Was ist geschehen? Vor gut einer Woche wurde bekannt, dass die Essener Tafel keine nicht-deutschen Nutzer ihres Angebots mehr aufnimmt. Der Anteil der Flüchtlinge und Zuwanderer an den 6000 Beziehern von kostenlosen oder stark verbilligten Nahrungsmitteln sei von 35 Prozent (2015) auf zuletzt 75 Prozent gestiegen, berichtete Sartor. Viele junge Männer hätten „mangelnden Respekt gegenüber Frauen“ gezeigt und: Es habe „Geschubse und Gedrängel ohne Rücksicht auf die Oma in der Schlange“ gegeben.

Dass sich daraufhin die Chefaktivisten des populistisch-ausgrenzend Bösen (AfD: Asylbewerber haben „bei der Tafel nichts zu suchen“), aber eben auch des All-Inclusive-Guten zu Wort melden würden - fast geschenkt: Die dummjuvenilen Empörungseruptionen einer Berliner Staatssekretärin, die den verzweifelten Hilferuf von Sartor zur Bild-Schlagzeile an sich selbst verdichtet („Essen nur für Deutsche. Migranten ausgeschlossen“), damit es ihr schön „eiskalt den Rücken herunter“ laufen kann, oder auch der metrocoole Emojournalismus einer ZDF-Moderatorin, die Essen zum Schauplatz moderner Gladiatorenkämpfe erklärt („Hunger Games“) - man nimmt davon kaum weniger deprimiert Notiz wie von der Nachricht, dass Unbekannte die Fahrzeuge und Türen der Essener Tafel mit „Fuck-Nazis“-Graffiti besprüht haben.

Si saltem tacuissent… - wenn wenigstens sie geschwiegen hätten… - aber nein, auch Katharina Barley (SPD), die Familienministerin, und die Kanzlerin selbst mussten Sartor belehren: Die Essener Tafel befördere Vorurteile, so Barley. Man möge doch bitte „nicht solche Kategorisierungen vornehmen“, sagte Merkel: Das sei „nicht gut“. 

Kein Wort bei Barley davon, welche Vorurteile die jungen Männer mit ihrem Benehmen bestätigt haben könnten. Kein Wort bei Merkel davon, dass ihre Flüchtlings- und Sozialpolitik vielleicht auch „nicht gut“ sei. Und kein Wort bei beiden davon, dass hier im Kern ein gemeinnütziger Verein dafür kritisiert wird, dass er bei der Verteilung von preisgünstigen und kostenlosen Lebensmitteln an Arme das „Recht des Stärkeren“ nicht gelten lassen will. Stattdessen wuchert wild das amtlich ahnungslose Meinen - man fragt sich wirklich, warum Union und SPD ihre Mitglieder nicht einfach schriftlich auffordern, ins Lager der AfD zu wechseln.

Jochen Brühl, der Vorsitzende der Tafel Deutschland, hat in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung mittlerweile alles Nötige zum Thema gesagt: „Wir lassen uns nicht von der Kanzlerin rügen, denn die aktuelle Entwicklung ist eine Konsequenz ihrer Politik.“ Und weiter an die Adresse der Regierenden in Berlin: „Bevor ihr irgendwen anklagt, solltet ihr euch ein Bild von der Arbeit und den Umständen vor Ort machen. Die pauschalisierenden und zum Teil sehr verletzenden Äußerungen sind doch entlarvend. Damit setzt ihr euch nur selbst auf die Anklagebank. Ihr habt in den letzten 25 Jahren offensichtlich trotz Tafel nicht verstanden, wo das eigentliche Problem liegt.“

Kapitulation des Sozialstaats

Brühl hat jedes Recht, so deutlich zu werden. Er weist seit Jahren auf die Gefahr von Verteilungskämpfen zwischen alten Armen und neuen Bedürftigen hin. Er warnt fast schon routinemäßig davor, die Schwachen gegen die Schwächsten auszuspielen. Und er hat unzählige Male klar gemacht, dass seine Organisation sich gegen die argumentative Ausbeutung von Missständen durch Rassisten und Fremdenfeinde verwahrt. Kurz: Man muss schon bösartig gut sein, um der Essener Tafel zu unterstellen, sie verletze aus Xenophobie statt schierer Verzweiflung vorübergehend den vierten ihren eigenen Grundsätze: „Die Tafeln helfen allen Menschen, die der Hilfe bedürfen.“

Fakt ist: Fast 950 Tafeln mit 60.000 ehrenamtlichen Helfern unterstützen in Deutschland 1,5 Millionen Bedürftige - und damit mehr als doppelt so viele Menschen wie noch 2007. Entstanden als private, örtliche Initiative vor 25 Jahren in Berlin, um eine ein paar Dutzend Obdachlose mit Nahrungsmitteln zu versorgen, die nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums ansonsten vernichtet worden wären, verstehen sich die Tafeln heute vor allem als „seismografischer Faktor“ der Gesellschaft - und als „Bürgerbewegung, die Veränderungen“ einfordert: Es könne nicht sein, „dass Rentner nach einem jahrzehntelangen Arbeitsleben zu wenig Rente haben“, sagt Brühl, dass viele „Löhne nicht ausreichen“, damit die Menschen sich selbst versorgen können, dass Deutschland sich „eine unzureichende Grundsicherung“ leiste und eine „unausgegorene Zuwanderungspolitik“.

Vor allem aber sind die Tafeln auch ein Sinnbild für die Kapitulation des Sozialstaats: Er kommt seiner genuinen Aufgabe - die Gewährung eines Existenzminimums für Kranke, Arme, Arbeitslose - nicht mehr nach und überlässt die Ärmsten der Armen dem Almosenprinzip des 19. Jahrhunderts. Er schichtet jedes Jahr Milliarden von besserverdienenden Singles zu gutverdienenden Familien um (Baukindergeld, Elterngeld, Mütterrente) - und kalkuliert das freiwillige Engagement der Tafeln ein, um Hartz-IV-Empfänger, Arbeits- und Obdachlose die Sozialleistungen mit dem Allernötigsten abspeisen zu können.

Der Soziologe Stefan Selke spart dabei nicht mit Kritik an den Tafeln selbst - und zeiht sie der „Verkitschung des Sozialen“  - etwa wenn sie seinen Wohltätigkeitswettbewerben und Kampagnenideen auf den Leim gehen, wenn sich etwa Tafel-Mitarbeiter in Frankfurt zu „Rittern der Tafelrunde“ (und zu Rettern der Armen) stilisieren. Selke will in kritischer Absicht entlarven, dass „ernsthafte Politik in der Ära der Postdemokratie durch oberflächliche Spektakel“ ersetzt werden: „Immer wieder gelingt es mir, Sympathie für symbolische Armutslinderungsmaßnahmen zu erzeugen und damit die verlässliche Legitimation für politische Strategien der Armutsbekämpfung zu untergraben.“

Doch der Kern der Kritik müsste auf den Punkt zielen, der dem Sozialwissenschaftler Stefan Sell wichtig ist: Wenn „Jobcenter ihre sogenannten ‚Kunden‘ aktiv auf die Inanspruchnahme von Leistungen der Tafeln verweisen, um das Existenzminimum zu sichern“, so Sell, dann zieht sich der Rechtsstaat aus seiner Verantwortung zurück, um Bedürftige einer „Schattenwelt der Subsistenzökonomie“ zu überlassen, in der sie keine Ansprüche mehr erheben können, sondern das Glück haben, etwas zu erhalten oder nicht.

Was hier auf dem Spiel steht, um es klar zu sagen, ist nicht weniger als die Gründungsidee des europäischen Sozial- und Steuerstaats: Dessen Pointe besteht eben darin, dass Leistungsempfänger und Hilfebedürftige in ihm nicht (mehr) auf den Austausch von Zwischenmenschlichkeiten, auf Gaben und Geschenke ihrer Nächsten, auf persönlich gewährte Wärme und Mildtätigkeit angewiesen sind. 

Wobei der Vorteil der Anonymität keineswegs nur bei denen liegt, die Nutznießer des sozialen Steuerstaates sind, sondern auch aufseiten derer, die ihr Scherflein zu ihm beitragen: Kein Steuerzahler muss sich dem Vorwurf ausgesetzt fühlen, den Bettina von Arnim (1785–1859) noch mit einigem Recht gegen die Reichen erhob – dem Vorwurf nämlich, sie würden die „Armen abhängig machen von der Laune ihrer Güte“, sie erhalten „in den Fesseln der Dankessklaverei“.

von Sven Böll, Marc Etzold, Max Haerder, Thomas Schmelzer

Das heißt: Gleichheit und Gerechtigkeit im modernen Sozialstaat entstehen im Gegensatz zum Almosenprinzip im 19. Jahrhundert durch die unterschiedslose Behandlung, die der Souverän im Wege der Lohnsteuer den Großzügigen und Geizigen angedeihen lässt. Beide müssen etwas beisteuern. Beide werden für dieses „Müssen" vom „Müssten“ entlastet. Und beide wollen dafür aber auch auf ihren Staat zählen können: dass er für Recht und Ordnung - und für die Armen - sorgt. 

Deshalb gehört Angela Merkel jetzt an die Tafel, und zwar schnell. Sie wird dabei, mit Blick auf die Verteilungskämpfe zwischen den Schwachen und Schwächsten, vor allem dreierlei lernen. Erstens: In ihrem Deutschland wächst nicht nur das BIP, sondern auch die Armut. Zweitens: In ihrem Deutschland droht nicht nur das Soziale privatisiert zu werden, sondern auch zu verkitschen. Drittens: Die Hilfsbereitschaft und Solidarität selbst ihrer besten, ehrenamtlichen Staats- und Steuerbürger ist nicht grenzenlos - und kann ihnen schon gar nicht unter Hinweis auf universale Gleichheitsprinzipien und Menschenrechte abgefordert werden. Es sei denn, Merkel hat ein Interesse daran, den Aufschwung der AfD fortzusetzen.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%