Tauchsieder
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dpa

Angela Merkel. Eine Bilanz.

Streit in der Union über Asylfragen? Ach was. Eher eine Generalabrechnung mit der kanzleramtlichen Nicht-Politik. Und ein Verzweiflungskampf um die Rückgewinnung enttäuschter Wähler.

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Machen wir es so kurz wie möglich: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat im Asylstreit mit der Christdemokratie noch ein paar gute Argumente auf ihrer Seite.

Erstens: Die Zurückweisung von Menschen an der deutschen Grenze, die bereits in einem anderen EU-Land als Asylsuchende registriert wurden, ist nur dann rechtens, wenn die Regierungen dieser Länder der Bitte zur Wiederaufnahme entsprechen.

Zweitens: Nationale Grenzkontrollen unterlaufen das Prinzip der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union und setzen womöglich eine Kettenreaktion in Gang – es droht eine Rückkehr der Schlagbäume, der bewaffneten Staatspolizeien, das Ende des Schengen-Raumes.

Drittens: Es handelt zutiefst antieuropäisch, wer einen Rückstau des Migrationsstromes provoziert und die EU-Länder des Mittelmeerraumes, allen voran Griechenland und Italien, ihrem Schicksal als natürliche Erstanlaufstelle von Afrikanern und Arabern überlässt.

Allein die Stimmung in Deutschland hat Angela Merkel gewiss nicht mehr auf ihrer Seite, im Gegenteil: Wenn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) von einem „Endspiel um die Glaubwürdigkeit“ spricht, dann ist das allenfalls leicht übertrieben. Der Skandal mit den durchgewinkten Asylbescheiden am Bremer Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Mord an Susanna F., die kriminelle Karriere ihres mutmaßlichen Mörders, seine großfamiliär begleitete One-Way-Flucht in den Irak, dem er angeblich so dringend entkommen musste, natürlich auch die steigende Gewaltkriminalität insgesamt durch den Zuwachs an Zuwanderern und die andauernden Probleme mit der Abschiebung von Personen, die zur Ausreise längst verpflichtet wären – das alles führt den Deutschen beinahe täglich vor Augen, dass drei Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise viel zu wenig geschafft ist. Dass Merkel mit den Problemen überfordert ist. Sie nicht löst. Sie noch immer nicht beim Namen nennen will.

Die Eskalation des Konflikts mit der CSU und weiten Teilen der eigenen Partei geht daher vor allem auf ihr Konto, nicht auf das der bayerischen Landtagswahlkämpfer.
Es grenzt ans Peinliche, dass Merkel noch immer ihren Humanismus zur Schau stellt – und zugleich dafür sorgt, dass die Grenzschutzagentur Frontex möglichst viele Migranten zurück zur afrikanischen Nordküste lotst. Dass sie von einer „europäischen Lösung“ spricht – und dabei auf die Gunst des türkischen Staatspräsidenten baut. Dass sie sich zum Schutz der Außengrenzen gegen eine „Achse der Willigen“ (Deutschland, Österreich, Italien) stellt, wie sie Innenminister Horst Seehofer (CSU) vorschwebt – inzwischen aber den ungarischen Staatspräsidenten Viktor Orbán dafür lobt, „für uns gewissermaßen die Arbeit“ zu erledigen. Und dass sie jetzt schnellschnell auf „bilaterale Vereinbarungen“ setzt – obwohl sich gerade ein Konflikt zwischen Frankreich und Italien zuspitzt: Beide Länder können sich nicht auf einen Hafen einigen, den 629 Menschen auf einem Schiff zu ihrer Rettung gerne ansteuern würden.

Anders gesagt: Es ist wie immer bei Merkel. Sie reagiert situationsbezogen, spät, ziellos. Amtiert den Tatsachen und Krisen hinterher. Richtet sich, halbwegs nachholend an dem aus, was Demoskopen ihr über die Deutschen zu erzählen wissen. Wann immer es auch Zeit sein wird, eine Bilanz ihrer Kanzlerschaft zu ziehen, in drei Wochen oder drei Jahren – sie wird ernüchternd ausfallen.

Merkel hat das tagespolitisch Anfallende gewissenhaft erledigt und die politische Oberfläche stets zeitgemäß poliert, um ihrer Union den Wahlsieg zu sichern, das schon. Aber sie hat keinen Kompass besessen, an dem sie und die Deutschen sich hätten orientieren können. Keinen Sensor für die gefährlichen politischen Unterströmungen in diesem Land. Keinen Ehrgeiz, dem Kontinent in seinen multiplen Existenz- und Orientierungskrisen die Richtung zu weisen.

Und schon gar keinen Sinn für demokratischen Streit. Dass die Kanzlerin glaubt, die AfD durch demonstrative Nichtbeachtung wieder aus der Welt schaffen zu können, dass sie im Bundestag wie ein Kind agiert, das die Augen schließt und darauf hofft, die Gefahr möge bitte vorbeiziehen statt dem munter drauf los marschierenden Rassismus die Stirn zu bieten, sich für Europa ins Zeug zu werfen (und den politischen Gegner in Sachfragen als politischen Gegner in Sachfragen zu behandeln) – es ist dürr, traurig, empörend fast. Merkel mag zwar spüren, dass was nicht stimmt im Staate Deutschland. Aber sie vermeidet es peinlich, die Deutschen spüren zu lassen, dass sie spürt, dass etwas nicht stimmt.

Merkel erzeugt ein politisches Vakuum, regiert ein demokratisch ausgepumptes Land, basierend auf der niedrigzinspolitisch erzeugten Illusion eines maximalen Wohlstandsniveaus. Ihre Kanzlerschaft und ihr politisches Erbe werden sich dereinst wohl in vier lapidaren Sätzen zusammenfassen lassen: Sie hat von den Reformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder (SPD) und von exportstarken Unternehmen glänzend profitiert. Die Konjunktur war dabei, Finanzkrise hin oder her, stets ihr Freund. Sie kalmierte die Deutschen mit allem, was Sozialdemokraten (Mindestlohn) und Christsoziale (Mütterrente) zu bieten hatten, lullte sie im Wege der asymmetrischen Demobilisierung systematisch ein, wog sie in trügerischer Sicherheit. Und die Rechnung für all ihre Versäumnisse und Fehler mussten ihre Nachfolger begleichen.

Merkel lag mit ihren Überzeugungen verlässlich daneben

Ein vorweggenommenes Fazit? Merkel lag mit den wenigen Überzeugungen, die sie besaß, verlässlich daneben: Sie hat Schröder abgekanzelt, als der sich gegen den Irak-Krieg aussprach („Schröder spricht nicht für alle Deutschen“) – und damit eine frühe Chance vertan für eine überfällige Neujustierung und Emanzipation der europäischen Sicherheitspolitik.

Sie hat die Deutschen vor zwölf Jahren druckbeatmet mit Steuersenkungsreform- und Deregulierungspathos – und die Banken auf Kosten von Steuerzahlern gerettet. Sie hat für den Ausstieg aus dem Atomausstieg plädiert – nur um nach Fukushima einen teuren und rettungslos überstürzten Ausstieg aus dem Ausstieg des Ausstiegs zu initiieren.

Merkel hat auch immer auf Selbstverpflichtungen der Wirtschaft gesetzt, die Autoindustrie in Brüssel lobbyiert – und es sich mit dem Dieselskandal danken lassen. Sie hat gemeint, sie könne Deutschland mit dem Dublin-Abkommen Migranten vom Leib halten und hat dezidiert nicht in grenznahe Flüchtlingscamps investiert, so wie die Briten es stets empfohlen hatten – und Tausende von Flüchtlingen dann ungeprüft ins Land durchgewunken. Sie hat die Deutschen (und Teile der Medien) in dieser Zeit monatelang erfolgreich unter Positivismusdruck gesetzt („Wir schaffen das“) – und eben dadurch den Rechtspopulismus gestärkt.

Merkel hat auch den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron ein Jahr lang im Regen stehen lassen mit seinen Vorschlägen zur Vertiefung der Europäischen Union – und das Thema „Europa“ erst ernstgenommen, seit US-Präsident Donald Trump es ihr durch seine America-first-Politik nahelegte. Ihre Regierung hat sich der europäischen Schutz- und globalen Supermacht USA gegenüber lehrmeisternd als Konsolidierungs- und Austeritätsweltmeisterin präsentiert – und dabei Jahr für Jahr das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben verfehlt.

Merkel besteht auch auf einer Verteilung von Flüchtlingen in Europa, obwohl die Bevölkerungen in zahlreichen Mitgliedsstaaten sich in Wahlen wiederholt dagegen ausgesprochen haben. Sie beschimpft Polen und Ungarn für ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik statt beide Länder für die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien zu tadeln und Vertretern der ungarischen Regierungspartei in Brüssel mit dem Rauswurf aus der Fraktion der Konservativen zu drohen. Und Merkel pflegt nicht nur das Bild von der deutschen Wirtschaftskraft Deutschlands und den stolzen Leistungsbilanzüberschüssen, sondern arbeitet aus Angst vor AfD und FDP auch nicht am Abbau des Zerrbildes vom Zahlmeister, dem es mit der D-Mark noch viel besser ginge.

Seehofer und Merkel liegen in ihren Schützengräben

Krisen entstehen nicht dann, wenn Realitäten sich ändern. Sondern wenn Erwartungen enttäuscht werden. Die Erwartung an Merkel durfte sein, dass sie in einem kerngesunden Land am „Wohlstand für alle“ arbeitet. Dass Lohneinkommen mindestens so gut wie Kapitaleinkommen steigen. Dass Digitalkonzerne anständig Steuern bezahlen. Dass die polizeiliche Bearbeitung eines Diebstahls oder Wohnungseinbruchs wenigstens ein bisschen Aussicht auf Erfolg hat. Dass Richter nicht vor lauter Überlastung weiße Fahnen hissen. Dass die Bildungschancen einigermaßen gleich verteilt sind. Dass man von seiner Rente leben kann, wenn man 35 Jahre gearbeitet hat. Dass die Infrastruktur gut in Schuss ist, die digitale Infrastruktur passabel ausgebaut. Merkel hat auch diese Minimalerwartungen enttäuscht. Das Vertrauen der Deutschen in die (Regierungs-)Politik dürfte in den vergangenen zwölf, 13 Jahren nicht gewachsen, eher gesunken sein. Obwohl das Land so wenig Arbeitslose zählt wie lange nicht. So viele Beschäftigte zählt wie nie zuvor. Was für ein Kunststück.

Ein Schlussbefund, der ratlos macht? Gewiss. Der aber immerhin erklärt, worum es in diesen Wochen wirklich geht in der Union. Nicht um die bayerische Landtagswahl. Nicht um einen alphatierlichen Machtpoker in der Asylpolitik. Sondern um die Zeit nach Merkel – um die Rückgewinnung dessen, wofür früher einmal der Begriff „politischer Gestaltungswillen“ zur Verfügung stand.

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