Sage niemand, das Ausmaß der Selbstzerlegungslust in der CDU sei dann doch überraschend. Der abfällige Ton, mit dem NRW-Regierungschef Armin Laschet die egomane Großmäuligkeit des theoretischen Cheferneuerers Friedrich Merz herausstreicht und ihn zum nörgelnden Revanchisten ohne politische Erfahrung stempelt? Die kalte Herablassung, mit der Merz das irrlichternde „Weiter so“ des provinziellen Leichtmatrosen Laschet der Lächerlichkeit preisgibt, den man besser nichts ans Ruder lässt? Genauso musste es im Rennen um die Führung der CDU kommen. Man wusste und weiß es sicher. Seit fast 15 Jahren.
Damals, am Abend des 18. September 2005, beschloss Angela Merkel Deutschland lieber nicht zu regieren. Sie war wochenlang siegestrunken und reformbeschwipst durchs Land gezogen, weil sie allen Ernstes glaubte, die Deutschen mit Kopfpauschalen und einfachen Steuersätzen verzaubern zu können, angefeuert von einer schwarzgelb-karierten Medienmeute, die nach neoliberaler Katharsis verlangte – und ermuntert von einem Bundespräsidenten, der mit weit aufgerissenen Notverordnungsaugen eine „nie dagewesene, kritische Lage“ herbeiraunte, um dem rot-grünen Spuk der unseligen Schröder-Fischer-Ära endlich ein Ende zu bereiten: „Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel.“ Es spricht für die Deutschen, dass sie damals ruhig Blut bewahrten, Merkel nur einen denkbar knappen Sieg bescherten und ihre neue Kanzlerin lehrten: Nicht mit uns!
Aber leider stellte sich heraus, dass Merkel die Deutschen nicht verstand. Sie wähnte ihr Volk technikfeindlich und veränderungsresistent, wohlstandssatt und reformunwillig – und entschied sich fortan, blöden Schafen eine gute Hirtin zu sein. „Asymmetrische Demobilisierung“ nannten sie das im Konrad-Adenauer-Haus und waren mächtig stolz darauf: kontroverse Themen so lange und konsequent meiden, bis potenzielle Wähler des politischen Gegners maximal demotiviert sind, am Wahltag zur Urne zu schreiten. Dass Merkel mit ihrer entschiedenen Unentschiedenheit auch die eigenen Wähler dazu aufrief, sich bloß nicht für die Union zu begeistern, konnte auch damals schon niemandem entgehen.
Gewiss, als Kanzlerin war Merkel mit der Narkotisierung der politischen Öffentlichkeit zunächst erfolgreich. Doch der Parteichefin war die CDU spätestens seit 2009 egal: „Angela Merkel nährt sich vom Fleisch der Union“, habe ich an dieser Stelle vor elf Jahren geschrieben, und: „Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie Merkel dereinst… vom Thron stürzt und gnadenlos zerpflückt wird… Die CDU wird nicht ewig zusehen, wie sie auf Distanz zu ihr geht, die Partei paralysiert.“ Tatsächlich erinnerte die CDU den Innenpolitiker Wolfgang Bosbach schon damals an einen „angezählten Boxer, dessen Auge zugeschwollen ist, der seinen Mundschutz längst verloren hat – und zu dem die Trainerin immer wieder sagt: Ruhig – es läuft. Ruhig – es läuft.“
Und ja, es lief tatsächlich, irgendwie, immer weiter: Weil die Union schwach und schwächer wurde – aber als Hegemon relativ erstarkte. Die CDU holte damals bei Landtagswahlen in Sachsen oder Baden-Württemberg noch knapp 40 Prozent der Stimmen. Merkel regierte im Bund mal mit den Roten, mal mit den Gelben, ganz gleich: Sie raubte der CDU ihr rheinisches Herz und ihr katholisches Zentrum, ihren konservativen Kern und ihre sozialen Prinzipien (Subsidiarität, Selbstverantwortung) – und sie verankerte die CDU im deutschen Parteienspektrum zugleich als einzige Volkspartei in einer ortlosen „Mitte“. Merkel gönnte Linken, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen jederzeit, sich im Glanz polierter Weltanschauungen zu sonnen. Umso strahlender konnte sie selbst erscheinen – und als nüchterne, rein vernunftgeleitete, quasipräsidiale Politschiedsrichterin glänzen, die ihrem Regierungshandeln ausdrücklich keine Weltanschauung zugrunde legt.
Die Kehrseite ihrer ambitionslosen Gestaltungsarmut: Merkel ignorierte den Sinnhunger und die Resonanzbedürftigkeit der Deutschen, die politische Ortsverbundenheit namentlich der Unions-Wähler – und sah tatenlos zu, wie sie sich in Scharen von der CDU abwendeten, um entweder als Heimatvertriebene der konservativen Revolution ihre Stimme zu leihen (AfD), oder um sich den verbürgerlichten Babyboom-Linken anzuschließen, die ihr Leben gern mit einem normativen Surplus anreichern und als überzeugte Postmaterialisten nur das Allerselbstverständlichste für ihre Familien und Kinder fordern: saubere Fahrradstädte, eine bessere Tierhaltung, ein prima Klima (Grüne). Es ist daher nicht übertrieben, wenn der neue Juniorpartner von Armin Laschet im Rennen um den CDU-Vorsitz, Jens Spahn, eine restlos inhaltsleere CDU heute in der „größten Krise ihrer Geschichte“ sieht: Hauptsache Merkel? – vor allem damit soll es in der Partei endlich ein Ende haben.
Denn Hauptsache Merkel, das hieß in den vergangenen Jahren noch dazu: verordnete Alternativlosigkeit. Die Finanz- und Eurokrise, die Rettung Griechenlands, der Ausstieg (aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg) aus der Kernenergie, nicht zuletzt der Grenzkontrollverlust während der Flüchtlings- und Migrationskrise 2015/16 – wann immer sich Lagen zuspitzten, moralisierte Merkel ihr situatives Handeln, um es der Kritik zu entziehen. Das war beim Thema Bankenrettung so, als sie den Zusammenhang von Risiko und Verantwortung verriet – und private Verluste sozialisierte. Das war beim Thema Griechenland der Fall, als sie die Metapher „Europa“ positivierte, um sich in den Regierungsfraktionen jede Mäkelei an der verheerenden Geldpolitik der EZB, an Rettungsschirmen und Hilfspaketen zu verbitten.
Und das war erst recht im Falle der Flüchtlingspolitik so, als Merkel die Grenzöffnung zum „humanitären Imperativ“ erklärte: Die Behauptung ethischer Maximalprinzipien, denen Merkel vorher nicht gerecht geworden war und schon bald nicht mehr gerecht werden wollte, zielte auf die Abschaffung des Politischen schlechthin, nämlich auf die moralische Disqualifikation Andersdenkender. Man musste sich damals entscheiden zwischen Merkels Deutschland und dem Land, das nicht mehr ihres sein sollte. Spätestens als Merkel am Wahlabend im September 2017 vor lauter Selbstblindheit „nicht sehen“ konnte, „was wir anders machen sollten“, war daher klar: Ihre Nachspielzeit hatte begonnen.