Tauchsieder

Intellektueller Ausnahmezustand

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Ausnahmezustand Coronavirus

Was uns zu der Frage führt, auf welche Abwege uns die professionellen Chefbeobachter diesmal führen werden, also im Ausnahmezustand, den nicht der Terrorismus, sondern das neuartige Coronavirus über unsere Gesellschaft verhängt. Richard David Precht, von Peter Sloterdijk mal sehr zu Recht als Andrè Rieu der Branche gewürdigt, weist schon mal die Richtung: Er findet es „sehr sehr spannend“, dass eine „sehr kleine Bedrohung“, etwas „vergleichbar Harmloses“ wie das Coronavirus einen Staat auf den Plan ruft, der eingreift, verbietet und klare Grenzen setzt – dass also plötzlich etwas möglich ist, was „angesichts der ganz großen Menschheitsbedrohung“ des Klimawandels bisher nicht möglich schien: „Das weckt den Sinn für das Nachdenken.“ Wobei es mit dem Nachdenken nach zehn Sekunden schon wieder vorbei ist, denn Precht weiß das Nachgedachte umgehend als Gewissheit zu fassen, „dass die Leute mehr Angst um ihr Leben haben als um das Überleben der Menschheit“.

Donnerwetter. Von Precht lernen, heißt die Welt besiegen lernen – durch sie hindurch zu blicken auf das, was in diesen Wochen wirklich ist und zählt. Vergesst daher erstens die medizinischen Experten, die euch jeden Abend im Fernsehen ein klitzekleines Erkältungs-X für ein riesengroßes Pandemie-U vormachen - und vertraut den Küchenphilosophen! Zweitens: Ängstigt Euch nicht angesichts der realen und konkreten Gefahr des individuellen Organversagens, sondern lernt endlich, für euch und eure Kindeskinder, das beherrschbare und diffuse Risiko des apokalyptischen Kollektivtods fürchten! Und drittens: Verratet bitte niemandem, dass die Kausallage beim Klimawandel hochkomplex ist und eine internationale Koordinationsleistung erfordert, an der politische Verantwortliche seit Jahrzehnten arbeiten – während die Kausallage des Corona-Problems (unbekanntes Virus; Gefahr vor allem für ältere Menschen) eindimensional ist und den Staat daher, gedacht als Institution des Selbstschutzes seiner Bürger, zu einer spontan entschlossenen Reaktion geradezu nötigt.

Man sieht: Die Reflexe ambiguitätsintoleranter Antikapitalisten, Kulturpessimisten und Wachstumsfeinde funktionieren auch in diesen Corona-Wochen prächtig. Es ist ja auch herrlich leicht. Man schaltet erstens den Sinn ab für die Vorzüge eines zivilisatorischen Fortschritts, der einem in den hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften des Westens überhaupt erst die Möglichkeit verschafft hat, sich auf die Rolle eines „Beobachters zweiter Ordnung“ zurückzuziehen und kritisiert dann, krisenermuntert, die Expansionslogik und das Steigerungsspiel derselben liberalen Wirtschaftsordnung, deren Ausdifferenzierung wir „als Menschheit“ etwa Gesundheitssysteme verdanken, die uns „überhaupt erst in die Lage versetzen, die (typisch vormoderne) Gefahr einer Pandemie (typisch modern) in das Risiko ihrer Beherrschung oder Nicht-Beherrschung zu übersetzen. Denn man muss ja, auf diesem Beobachter-Posten, keine Entscheidungen treffen, wie schön, sondern bloß, wie Svenja Flaßpöhler, kopfschüttelnd auf das Getümmel der Überforderten herabblicken, die Impfstoffe erforschen und Krankenbetten bereitstellen, Schulen schließen, Veranstaltungen verbieten und Arbeitsplätze retten: Zu früh! Zu spät! Zu wenig! Zu viel! Und vor allem: Wozu das alles, wenn es nicht dem Klima hilft, uns keinen Weg aus der materialistischen Selbstversklavung weist?

Nein, nein, liebe Chefbeobachter: Es geht jetzt nicht ums Innehalten und Im-Zimmer-bleiben, nicht um ein „Es geht doch“ mit Blick auf bereinigte Klimadaten, weil Inlandsflüge und Geschäftsreisen ausfallen und globale Lieferketten unterbrochen sind. Und schon gar nicht geht es darum, die eigenen, aufwendig hergeleiteten Verschwörungstheorien abzudichten, so wie es etwa der italienische Staatsphilosoph Giorgio Agamben tut, wenn er die „hektischen, irrationalen und völlig unbegründeten Notstandsmaßnahmen“ kritisiert, „die wegen einer mutmaßlichen Epidemie des Coronavirus ergriffen werden“ - nur um dem Staat vorwerfen zu können, mit der „Erfindung einer Epidemie“ ein „Klima der Panik“ zu schaffen, das es ihm erlaubt, „den Ausnahmezustand als normales Regierungsparadigma“ zu etablieren - und sich totalitäre Macht anzumaßen. Nein, nein, liebe Chefbeobachter, spart euch bitte eure Besinnungsaufsätze über totalitäre Demokratien und klimafreundliche Stillstandsrepubliken – Corona ist kein Stromausfall, der uns daran erinnert, dass im Kerzenschein schön kuscheln ist. Und schon gar kein geeigneter Ausgangspunkt für weltfremde Verzichtsdiskurse. Das Virus wird die Welt in vielerlei Hinsicht verändern, keine Frage. Es wird die Re-Regionalisierung der Wirtschaft vorantreiben und Politiker mit gemäßigtem Temperament protegieren, es wird uns zum Nachdenken über „die Macht des Schicksals“ anregen und über die Grenzen „offener Gesellschaften“, über Menschheitsprobleme, die wir nur gemeinsam, als „Menschheit“ adressieren können – und auch darüber, dass wir dieselbe „Natur“ als bedrohlich empfinden, deren größte Bedrohung wir zugleich sind.

Aber in diesen ersten Wochen der Krise, liebe Chefbeobachter, kommt es ausnahmsweise nicht auf euch an. Es geht in diesen Wochen nur um die, die mitten auf der Bühne stehen und agieren und damit völlig ausgelastet sind: um Experten, Regierende und Arbeitende, denen wir Vertrauen schenken, um Wissenschaftler, die nach Impfstoffen fahnden und Ärztinnen, die Leben retten, um Manager, die ihre Unternehmen auf Kurs halten, und Polizisten, die die Ordnung sichern, um Verkäufer, die uns bedienen und Politikerinnen, die mit entschlossener Besonnenheit das Nötige tun, die Alte schützen und die Wirtschaft stützen – und die dafür sorgen, dass die „Beobachter zweiter Ordnung“ schon bald wieder in den Genuss kommen, uns für einen schlauen Aufsatz über Blaise Pascal zu interessieren.

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