Tauchsieder
Baerbock, Laschet oder Scholz? „Niemand“ weiß Punkt 18 Uhr, ob er Kanzlerin oder Kanzler wird. Quelle: dpa

Baerbock, Laschet, Scholz: Keiner wird gewinnen

Olaf Scholz als Kanzler einer Kenia-Koalition – kann man das wählen im September? Viele Deutsche würden gern auf Armin Laschet, Annalena Baerbock und die SPD verzichten. Also wohin mit dem Kreuz?

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Neun Wochen noch. Dann hat Gerhard Schröder, der frühere Bundeskanzler, noch einmal seinen großen Auftritt. Dann wird das Video der „Elefantenrunde“ aus dem Jahr 2005 noch einmal herumgereicht, womöglich wochenlang: „Glauben Sie im Ernst“, testosterönte Schröder am Abend der Bundestagswahl in Richtung Angela Merkel, „dass meine Partei bei dieser Sachlage“ auf ein Gesprächsangebot der Union einginge, in dem sie beanspruchte, die Regierung zu führen? Merkel war damals, man kann sich das heute kaum mehr vorstellen, rettungslos reformbeseelt und erfolgsbeschwipst auf die Zielgerade des Wahlkampfs eingebogen – und wäre in einem spannenden Finish beinahe noch von Schröder abgefangen worden.

Der Kanzler meinte zuvor das ganze Land (und die Medien) gegen sich, mobilisierte im großen Dagegen seine letzten Reserven, kämpfte trotzgetrieben, adrenalindurchpumpt – und machte sich nun löwenhaft und geiergleich über das her, was er für seine Beute hielt: den Kadaver der Union. Nur eine Klitzekleinigkeit entging dem jägerstolzen Schröder damals: Er hatte verloren. Die Union erhielt 35,2 Prozent der Wählerstimmen, einen Punkt mehr als die SPD. Das reichte Merkel nicht zum Wunschbündnis mit der FDP. Aber das reichte Merkel, um Kanzlerin zu werden – weil die SPD sich am Ende in ihre Rolle als Juniorpartner einer (damals noch) großen Koalition fügte.

Die ersten Wochen nach der Bundestagswahl 2005 waren in vielerlei Hinsicht ein Testlauf für die Pluralität politischer Koalitionen und Konstellationen, wie wir sie heute kennen – und ein Stresstest für „demokratische Spielregeln“, von deren Gültigkeit und Güte der Berliner Betrieb damals noch überzeugt war – und deren Außerkraftsetzung in neun Wochen beinahe schon beschlossene Sache ist. Es ist sehr gut möglich, dass sich Union, Grüne, SPD und FDP am Wahlabend Schröders „Glauben-Sie-wirklich…“-Provokation nonchalant zu Eigen machen werden und rote Linien markieren, die niemandem mehr ungeheuerlich vorkommen – nur um paradoxerweise in Gespräche einzusteigen, die so offen wie nie sein werden.

Laschet, Baerbock, Scholz – das Personaltableau für die Bundestagswahl im Herbst steht. Die CDU hat sich gegen einen klaren Sieg entschieden. Das Rennen ist völlig offen. Überraschend viel spricht für Annalena Baerbock.
von Dieter Schnaas

Was ist passiert? Erstens: Es gibt seit 2005 keine politische Lagerbildung mehr – das schwarz-gelbe Intermezzo (2009 bis 2013), der unbürgerliche Umgang zwischen Union und FDP und das Ende der politischen Liebesheirat entkräften den Befund nicht, sondern bestätigen ihn. Alle demokratischen Parteien (und dazu zählt mit großen Abstrichen, nur in Ostdeutschland und maximal auf Landesebene, auch die Linke) sind gegenüber allen anderen demokratischen Parteien heute prinzipiell koalitionsfähig und bündnisbereit. Ein Blick in die politische Landschaft genügt, um das zu wissen: Sogar professionelle Teilnehmer und Beobachter dürften Schwierigkeiten haben, die Koalitionsfarben in den 16 Bundesländern fehlerfrei zu benennen.

Daraus folgt zweitens: Keine der fünf Parteien in der Mitte des politischen Spektrums (CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP) kann sich nach den Bundestagswahlen im Herbst „aus Prinzip“ Sondierungs- und Koalitionsgesprächen verweigern – zuletzt die FDP, die im Jahr 2005 noch leicht eine Ampelkoalition ausschließen konnte, im Jahr 2017 aber beinahe daran zugrunde gegangen wäre, die Jamaika-Verhandlungen platzen zu lassen: „Besser nicht regieren als falsch regieren“, so FDP-Chef Christian Lindner damals – von dieser demonstrativen Verantwortungsflucht hat er sich zwei, drei Jahre nicht erholt.

Eine Gruppe um Frank Thelen hat der FDP eine halbe Million gespendet. Der Investor ist aber längst nicht der einzige Unternehmer, der eine deutsche Partei unterstützt – und längst nicht der finanzstärkste Spender.
von Tobias Gürtler

Und das bedeutet drittens: Der seit je informelle „Regierungsauftrag“ liegt Ende September informeller denn je in den Händen der Partei, die die meisten Stimmen auf sich vereinigt haben wird: Wer wann wen unter welchen Bedingungen mit welchem Erfolg zu Gesprächen einladen darf, ist nicht nur offen – sondern inzwischen auch ganz egal. Die Grünen sondierten 2005 allenfalls pflichtschuldig und probehalber mit Union und FDP ein Jamaika-Bündnis. Die SPD blitzte unter der Führung von Franz Müntefering noch verlässlich bei FDP-Chef Guido Westerwelle ab – und beharrte in den Verhandlungen mit der Union nur scheinbar auf ihrem Anspruch, den Kanzler zu stellen, um möglichst viel ministerielle Macht für sich herauszuschlagen. Und heute? Heute träumen viele von Schwarz-Grün oder Jamaika oder der Ampel, manche sähen in dieser oder jener Konstellation lieber Armin Laschet oder Annalena Baerbock oder Olaf Scholz im Kanzleramt – und eine relative Mehrheit der Deutschen keinen der drei Kandidaten, weshalb es auch niemanden jucken würde, wenn am Ende der Koalitionsverhandlungen eine Partei die Kanzlerin oder den Kanzler stellte, die nur als Zweite oder Dritte das Ziel erreicht hatte.

Die Gründe dafür sind einfach und kompliziert zugleich. Der Wichtigste: Die Wähler können keine Kongruenz zwischen Personen, Parteien, Koalitionen und politischen Designs erkennen – weshalb die Chance so groß wie nie ist, dass die Deutschen am Ende eine Koalition bekommen, von denen die meisten Wähler nicht überzeugt sind.

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