Tauchsieder
Eine Ampel-Koalition im Bund ist jederzeit denkbar. Für die CDUler im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin sicher keine schöne Vorstellung. Quelle: dpa

Berliner Ampel(alb)träume

Olaf Scholz bestimmt die Richtlinien der Berliner Parteipolitik. Der SPD-Kanzlerkandidat setzt ein Thema, das sich nicht mehr aus der Welt schaffen lässt: Eine Regierung ohne Union ist möglich. Grüne und FDP jubeln. Die Armin-Laschet-CDU reagiert panisch. Zu Recht. 

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Olaf Scholz hat keine Chance. Aber man kann nicht sagen, dass er sie nicht nutzen würde. Der Kanzlerkandidat der SPD ist sieben Monate nach seiner Nominierung und ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl erstmals in der Offensive. Und Scholz genießt es, die Union mit kleinen Spitzen aus der Reserve zu locken, sie mit leicht diabolischer Lust zu provozieren – und ein Narrativ zu etablieren, von dem er sich wünscht, es könnte die Kraft und Dynamik einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung annehmen: Eine Regierungsmehrheit ohne die Union ist möglich. Die politische Mitte ist nicht schwarz-irgendwas. Eine Ampel im Bund ist jederzeit denkbar. Jetzt müssen sich die Deutschen nur noch an diesen Gedanken gewöhnen, hofft Scholz, aber das sollte ihnen nicht schwerfallen, weil mit der vierten Amtszeit der Kanzlerin auch eine Ära bleiern endet: Tschüss, Merkel. Tschüss, Union. Höchste Zeit für was Neues.

Das enorme Selbstbewusstsein Scholz' nimmt nicht durch die jüngsten Umfragen noch viel enormere Formen an, eher durch die offen zur Schau gestellte Nervosität der Union. Sie ist verunsichert angesichts einer langen Liste von Masken-, Lobby- und Selbstbereicherungsaffären in den eigenen Reihen, der schlimm verstümperten Pandemiepolitik ihres Premiumpersonals (Kanzlerin Angela Merkel, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) und der aufreizenden Nonchalance von Gernegroß-Spitzenpolitikern wie Spenden-Jens Spahn und Maut-Andreas Scheuer, die inzwischen allen Restanspruch auf Hochachtung verspielt haben.

Hinzu kommt, dass den Christdemokraten im ersten Moment eines harmlosen Entlastungsangriffs der SPD böse auffällt, dass ihre Stärke auf dem politischen Platz nur behauptet ist, dass die eigene Mannschaft nicht nur personell, sondern auch programmatisch schwach aufgestellt ist – und über keinen Matchplan verfügt. Die SPD hat ein Programm, die Grünen wissen, was sie wollen. Allein die Union will mal wieder: ach, nichts weiter. Dass die Christdemokraten in dieser Verfassung laut Wählerumfragen überhaupt noch 28, 29 Prozent auf die Waage bringen, ist für Scholz allerdings kein Jubelgrund. Eher müsste es ihn in Panik versetzen. 

Die Grünen streben in die Bundesregierung, dort wollen sie viel Geld in den Umbau des Standorts Deutschland investieren. Finanzieren soll das eine Vermögensteuer. Das dürfte nur einem Teil der Unternehmen gefallen.
von Cordula Tutt

Zumal die SPD nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sich nur minimal auf 17, 18 Prozent verbessern kann. Zumal die angestrebte Ampel nach dem Stand der Dinge Grün(-Rot-Gelb) leuchten würde. Und zumal Grüne, SPD und FDP laut den jüngsten Umfragen höchstens 48 Prozent auf sich vereinen, nur soeben eine Mehrheit im Bundestag stellen könnten. Gleichwohl, das Thema ist gesetzt. Und lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen.

Es ist eine erste schwere, weil hochsymbolische Niederlage für CDU-Chef Armin Laschet: Mit seinem Namen ist verbunden, dass die Union erstmals seit 15 Jahren ihre Hegemonialstellung einbüßt. Dass CDU und CSU nicht mehr als quasipräsidiale Parteien der Parteilosigkeit firmieren, deren Erfolgsrezept darin besteht, sich je nach demoskopisch ermittelter Volksbefindlichkeit dem Zeitgeist zu unterwerfen und die Deutschen normativ zu entlasten. Dass die Union sich nicht mehr als ortlose „Mitte“, als politische Meta-Organisation markieren kann, die je nach Stimmungslage mit der einen oder anderen kleineren Gesinnungspartei koaliert, um deren ideologische Überspanntheiten zum Wohle des Landes zu mäßigen.

Für zwei andere Parteien ist es ein Befreiungsschlag. Die Grünen freuen sich über die Ampeldiskussion, weil sie ihnen einen dritten Weg eröffnet: jenseits einer Juniorpartnerschaft mit der Union, die in Teilen der Partei unbeliebt wäre – und jenseits einer Grün-Rot-Rot-Koalition, für die die Parteiführung nur vorsichtig Sympathien bekunden müsste, um in allen Umfragen abzustürzen.



Fast noch mehr frohlockt die FDP. Sie wurde in der schwarz-gelben Koalition (Kabinett Merkel II, 2009-2013) von der Union verzwergt und zur außerparlamentarischen Opposition verdammt. Sie erinnert den schwarz-grünen Engtanz während der Jamaika-Verhandlungen im Jahr 2017 als schmählich vernachlässigter natürlicher Brautpartner der Union. Sie darf, ähnlich wie die Grünen vor vier Jahren, in Verhandlungen mit SPD und Grünen auf besonders viel Aufmerksamkeit hoffen – weil ohne sie nichts geht. Und sie könnte eben deshalb zentrale Politikfelder für sich reklamieren, die für die Liberalen reiche Erträge versprechen. Man stelle sich nur einen Augenblick vor, Christian Lindner könnte für sich ein neues „Ministerium für Digitalisierung und Bürokratieabbau“ durchsetzen, wie er es jüngst im WirtschaftsWoche-Podcast „Chefgespräch“ noch einmal forderte...

Und tatsächlich, der FDP-Chef gibt sich für eine derartige Konstellation schon mal die Steilvorlage: „Wir haben enorme Handlungsdefizite bei der Digitalisierung des Staates..., die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist massiv zurückgegangen, wir haben... eine Bürokratie, die sogar den Staat selbst fesselt auf den gebieten, auf denen er handeln will“, sagt er im selben FAZ-Interview, in dem er die Union als „ambitionsarm“ abkanzelt und „Interesse an gutem Regieren“ anmeldet.

Im Podcast erzählt der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, warum ihn das Corona-Management der Bundesregierung fassungslos zurücklässt und wie er aus ganz Deutschland ein Tübingen machen möchte.
von Beat Balzli

Die Union, abgesehen vielleicht von Norbert Röttgen, hat die eminenten Risiken dieses Ampel-Narrativs noch nicht wirklich erfasst: Sie reagiert gereizt, nervös, trotzig – und eröffnet dem politischen Gegner immer neue Flanken: Aber natürlich braucht es ein Lobbyregister. Natürlich müssen Nebenverdienste ab dem ersten Cent veröffentlicht werden. Natürlich muss der Bundestag verkleinert werden – und natürlich bekommt die Hauptregierungspartei CDU es wieder mal nicht hin, steht immer auf der Bremse, holt eilig nach, was längst hätte geschehen müssen, angetrieben von der erneuerbarsten aller CDU-Energien: von ihren Versäumnissen. Und Laschet? Der redet seit Wochen von einem „Modernisierungsjahrzehnt“ – und verkörpert es mit jedem Tag als verlässlich irrlichternder Coronapolitiker weniger.

Die CDU muss schleunigst einen respektablen Kandidaten präsentieren

Ein weiteres Problem für die Union: Laschet (übrigens auch Markus Söder) ist als Ministerpräsident nicht nur zur dauernden Korrektur seiner Fehleinschätzungen und temperamentgetriebenen Fahrlässigkeiten („nicht immer neue Inzidenzzahlen erfinden...!“) verdammt, sondern auch zur politischen Kleinteiligkeit. In der vergangenen Woche etwa schätzte der Oberbürgermeister von Dortmund die angespannte Infektionslage in Nordrhein-Westfalen realistischer ein als der Ministerpräsident, weshalb sich Laschet im Regionalfernsehen wahnsinnig über ihn ärgerte – und den vorausschauenden Kommunalchef darüber belehrte, dass die Inzidenzzahl in dessen Stadt doch noch nicht ganz so hoch sei, wie behauptet.

Es war dieselbe Woche, in der US-Präsident Joe Biden Russlands Präsident Wladimir Putin einen „Mörder“ nannte. Dieselbe Woche, in der Antony Blinken, der neue Außenminister der USA, China vorwarf, die Demokratie in Hongkong und Taiwan mit „Zwang und Aggression“ zu untergraben und ankündigte, nötigenfalls die Konfrontation mit Peking zu suchen. Dieselbe Woche, in der der britische Premier Boris Johnson mahnte, der Westen müsse die „Kunst der Behauptung gegenüber Staaten mit entgegengesetzten Werten wieder erlernen“.

Gewiss, dafür kann Laschet nichts. Aber die Pandemie konsumiert den CDU-Chef, der Bürgermeister den Ministerpräsidenten, die unionsinternen Skandal- und Kritikkaskaden den Kanzlerkandidaten. Laschet hat zu wenig Zeit, Ruhe und Rückhalt für kleine Gastauftritte auf der Weltbühne – und der Eindruck verfestigt sich, auch in Teilen der Union, er habe auch nicht das Format – es sei vielleicht das Beste für ihn, auch 2022 in der Landesliga zu spielen.

Der Bedarf am „Auf Sicht fahren“ ist aufgebraucht. Das Superwahljahr wird die belohnen, die sich als Spielmacher des Neuen zu erkennen geben, als Krisenlotsen.

Für die Union stellt sich die Lage mit Blick auf die Bundestagswahl im September daher ganz einfach dar. Erstens: Sie muss jetzt schleunigst einen respektablen Kandidaten präsentieren, der auch welt- und europapolitisch Flagge zeigt – der signalisiert: Ich kann Kanzler. Ich will Kanzler. Die Zeit drängt, das ist allen Beteiligten klar: Spätestens in vier Wochen ist mit einer Einigung zwischen Laschet und Söder zu rechnen, also lange vor Pfingsten.

Zweitens gilt: Entweder die Union bekommt die Pandemie noch in den Griff – oder sie riskiert ihre Selbstauswechslung. Entweder sie sichert den Deutschen mit einem forcierten Impfprogramm ein paar Strandquadratmeter auf Mallorca im Sommer – oder sie wird abgewählt. Entweder regelmäßig getestete Kinder und Jugendliche strömen Anfang September wieder in die Schulen – oder die Deutschen optieren für einen Neustart.

Olaf Scholz, der als Vizekanzler und Finanzminister mit internationaler Erfahrung punkten kann, wartet nur darauf, den Deutschen diesen Neustart anbieten zu können: als pater familias einer Innovationspartnerschaft, in der die Grünen das Klima bessern und die Verkehrswende besorgen, in der die FDP die Gesundheitsämter digitalisiert und Beamte aufscheucht – und in der er selbst, König Olaf, sich für die soziale Balance und fair bezahlte Arbeit, für wechselseitigen Respekt und den Ausgleich aller Interessen zuständig weiß: zum Wohle des Ganzen.

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Natürlich bleibt rätselhaft, warum die Deutschen ausgerechnet ihm, dem Vizekanzler, diesen Neustart zutrauen sollten. Aber als Dompteur einer „Innovationskoalition“ mit unbedingt regierungswilligen Grünen und Liberalen könnte sogar Scholz noch mehr politischen Sex-Appeal entwickeln als Laschet oder Söder mit der Aussicht auf eine weitere Schwarz-irgendwas-Koalition. Und wenn Anfang Mai die Grünen das Rennen ums Kanzleramt komplettieren, womöglich mit Annalena Baerbock, die die Aussicht auf eine ganz unverbrauchte Repräsentations- und Amtsästhetik verkörpern würde, ist das parteipolitische Feld tatsächlich: so offen wie lange nicht.

Mehr zum Thema: Der Bedarf am „Auf Sicht fahren“ ist aufgebraucht. Das Superwahljahr wird die belohnen, die sich als Spielmacher des Neuen zu erkennen geben, als Krisenlotsen. Ein Gastbeitrag.

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